Trinkt teures Bier im gentrifizierten Beirut

Back on the Map

Die Innenstadt Beiruts ist der Albtraum jedes Gentifizierungsgegners. Denn der Wiederaufbau der Stadt wurde nach dem Bürgerkrieg einer privaten Immobilien­gesellschaft überlassen. Diese errichtet dort Viertel für Reiche und Superreiche.

Der junge deutsche Diplomat trägt ein dunkelblaues Jackett mit goldenen Manschettenknöpfen, er hat blonde Haare, der Schnitt ist akkurat. Die noble Bar im Beiruter Stadtteil Gemmayzeh hat er als Treffpunkt vorgeschlagen. »Es gibt in Beirut viele Menschen, denen es sehr gut geht, und die meisten davon lieben es, sich gegenseitig dabei zuzusehen«, hat ein Journalist über Gemmayzeh geschrieben. Das Bier kostet in diesem Lokal 4,50 Euro, ein auf der Straße geparkter Lamborghini ist kein außergewöhnlicher Anblick. Eigentlich soll der Diplomat etwas über syrische Exil­oppositionelle im Libanon erzählen, doch das Gespräch konzentriert sich bald auf die Stadt. Dem jungen Attaché gefällt sie gut, wenigstens hier, in Gemmayzeh, denn hier gehe es vergleichsweise lässig zu. Drüben, in der Innenstadt, auf der anderen Seite der Rue Al-Shouhada, da sei alles anders. »Versuchen Sie mal, dort einfach nur kurz stehenzubleiben«, sagt er, »die kommen sofort!« Selbst er, der als Botschaftsmitarbeiter sichtlich wohlhabend und erkennbar westlicher Herkunft ist, werde von privaten Sicherheitsleuten angewiesen, weiterzulaufen. »Komplett privatisiert. Eine ganz brutale Art der Stadtenwicklung ist das«, sagt der Diplomat und nimmt noch einen Schluck Bier.
Jenseits der Rue Al-Shouhada liegt der Platz der Märtyrer, eine unansehnliche Betonbrache, es ist die letzte ihrer Art im Zentrum der libanesischen Hauptstadt. Am südlichen Ende des Platzes ragt die sandfarbene Al-Amin-Moschee mit ihrer azurblauen Kuppel in die Höhe. Hier beginnt der Beirut Central District (BCD), das größte und teuerste Innenstadtsanierungsprojekt der Welt. Der BCD ist eine Retortenstadt mit den höchsten Immobilienpreisen, eine sterile, artifizielle Mischung aus Südfrankreich und den modernen Luxuseinkaufsstraßen der arabischen Golfstaaten, eine »mall with­out walls«, die von der privaten Entwicklungsgesellschaft »Société libanaise pour le développement et la reconstruction de Beyrout« (Solidere) entworfen, gebaut und unterhalten wird.
Am Eingang vieler Straßen im BCD stehen rund um die Uhr Absperrgitter. Soldaten in blauen Tarnuniformen mit umgehängten Maschinengewehren beäugen die Passanten, die den Spalt zwischen den Gittern durchqueren. Vor dem Le Grey, dem neuesten der vielen Luxushotels im BCD, kniet eine Gruppe arabischer Arbeiter in blauen Anzügen in einer Art Beet, doch sie pflegen keine Blumen. Das Beet ist mit großen, blauen Glaskristallen gefüllt und einige davon haben offensichtlich Patina angesetzt. Die Arbeiter sind damit beschäftigt, sie einzeln zu begutachten und die angelaufenen Stücke durch neue zu ersetzen, die sie in Eimern mitgebracht haben.

Während des Bürgerkriegs in den achtziger Jahren verlief die »grüne Linie«, die Grenze zwischen den Territorien der christlichen und der sunnitischen Milizen, genau durch das Stadtzentrum. Hier tobten heftige Kämpfe zwischen den verfeindeten Gruppen. Am Ende der mehr als ein Jahrzehnt währenden Auseinandersetzungen war die Gegend vollkommen zerstört. Bis heute zeugen vereinzelte Gebäude, die von den Bulldozern von Solidere noch nicht abgerissen wurden, vom Krieg.
Die Ruinen mit Tausenden Einschusslöchern, die noch sichtbaren Spuren der Angriffe mit Maschinengewehren und Panzerfäusten, stehen in einem eigenartigen Kontrast zu der Welt, die Solidere im Laufe der Jahre erschaffen hat. Die Souks sind in vielen arabischen Metropolen verwinkelte Gassen voller Lärm, Menschen und Geschäfte. In Beirut ist das anders: Solidere ließ am Ort der alten Souks ein modernes Shopping-Viertel errichten. Während das von den französischen Kolonialherren erbaute Viertel um den Place d’Etoile von Solidere steril, aber originalgetreu wieder aufgebaut wurde, tilgte man den arabischen Stil der Souks restlos. »Beirut ist seit 5 000 Jahren bewohnt«, schreibt Solidere in seiner Selbstdarstellung. »Wir respektieren die Geschichte der Stadt und schaffen gleichzeitig einen neuen, modernen Bezirk.« Architektonische Zitate aus dem orientalischen Raum gibt es hier keine. Stattdessen finden sich unzählige Ableger der Filialen von Cartier, Louis Vuitton oder Dolce & Gabbana, die auch in den benachbarten Quartieren verbreitet sind.
Wer den inneren Kreis des BCD verlässt, gelangt in Gebiete, in denen Solidere noch baut oder bauen lässt. Ganze Straßenzüge sind mit Sichtschutzwänden abgetrennt und bieten immer das gleiche Bild: Auf Planen sind die Modellzeichnungen der Architekturbüros gedruckt, sie zeigen die Appartementhochhäuser, die sich künftig in einer endlosen Reihe vom BCD in Richtung Westen erstrecken sollen: die »Luxury Real Estate Opportunities«. Eigentumswohnungen sind hier nicht unter einer Million Dollar zu haben, viele sind deutlich teurer. Die durchschnittliche Miete liegt umgerechnet bei etwa 4 000 Euro.
Eine mit einer minimalistischen Wasserinstallation verzierte Baulücke öffnet den Blick auf das Mittelmeer und den Yachthafen. Die Kante lädt zum Sitzen ein, ringsum ist niemand zu sehen, doch der Diplomat hatte recht. Wer so tut, als höre er den aufgeregten Wachmann in seinem weißen Hemd nicht, der kann hier etwa 40 Sekunden rasten. So lange dauert es, bis der Wachann vom Eingang des »Marina Tower« die Wasserinstallation erreicht. Die Bewohner des »Marina Tower« können länger auf das Meer schauen. Ihre Wohnungen, so informiert eine Werbetafel, haben 3,40 Meter hoch verglaste Fassaden.

Zeitgenössische Stadtentwickler westlicher Metropolen richten sich oft nach den Lehren des US-Soziologen Richard Florida. In Hamburg, Berlin oder Barcelona gibt man Geld dafür aus, Künstlern und Bohemiens Nischen und Räume vorübergehend zu überlassen, man achtet darauf, einen genau kalkulierten Rest nichtkommerziellen Lebens zu erhalten. Das kennt man in Europa schon längst: Ein Hauch von Subkultur soll den aufgewerteten Innenstadtquartieren so etwas wie urbanen Glanz verleihen. Das soll die »Kreativen« anziehen, die als Grundlage einer dienstleistungsorientierten Wirtschaft gelten. Ein Unternehmensberater von Roland Berger, der Hamburg in dieser Frage beraten hat, formuliert es einmal so: »Der Werber geht nicht auf die Parties in der Roten Flora. Aber er mag die Cafés drumherum.«
In Beirut schert man sich allerdings nicht um die Kreativen, die eine subkulturell angereicherte urbane Stimmung wünschen. Man will die Reichen und Superreichen. »Beirut is back on the map«, schrieb vor kurzem die internationale Ausgabe der Financial Times. Gemeint war: Die einst als Shopping-Metropole berühmte Hauptstadt der »Schweiz des Nahen Ostens« ist wieder ein Ort, an dem man Geld ausgeben kann. Solidere ließ die Schlagzeile auf große Planen drucken und vor seine Baustellen hängen. Nach einer Studie der Consulting-Firma Capgemini ist im Libanon die Zahl der Menschen mit einem Anlagevermögen von mindestens einer Million Dollar im Jahr 2010 um 10,4 Prozent gestiegen.
Von der 2007 eröffneten Al-Amin-Moschee bis zu den Luxuswohnhäusern und dem Yachthafen – Beirut hat das alles einem einzigen Mann zu verdanken: dem ermordeten Multimilliardär und ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri. Er ist der Gründer von Solidere, seine Erben sind mit sieben Prozent die größten Anteilseigner.

Vor dem Krieg war das Entwicklungsgebiet von Solidere ein durchmischtes Viertel. Es war multiethnisch, es gab viele Reiche, aber auch einfache Geschäfte und Wohnraum für die weniger Wohlhabenden. Kaum war der Krieg vorbei, ließ der Self-Made-Milliardär Hariri, der seine Karriere mit einer Baufirma in Saudi-Arabien begonnen hatte, im Jahr 1991 Gebäude in der zerstörten Innenstadt abreißen. Zuerst mit Bulldozern, später mit Dynamit. Hariris Stiftung beauftragte das Planungsbüro Dar Al-Handasah mit einer »Wiederaufbaustudie«. Diese sah vor, dass 80 Prozent der Bausubstanz ersetzt werden sollten, eine künstliche Insel sollte im Meer aufgeschüttet werden. 1992 wurde Hariri Ministerpräsident, 1994 stimmte der Ministerrat per Dekret dem Wiederaufbauplan von Al-Handasah zu – trotz heftiger Proteste von Oppositionellen und Immobilienbesitzern. Heute hat Solidere nicht 80, sondern 90 Prozent der alten Bausubstanz abgerissen.
Die 4000 Flüchtlingsfamilien aus dem Südlibanon, die sich zwischenzeitlich in den Ruinen der Innenstadt angesiedelt hatten, zahlte Solidere auf Druck der Hizbollah aus. »Solidere hat das Stadtzentrum regelrecht leergekauft, um mit dem Abriss der Gebäude zu beginnen«, schreibt der Heidelberger Geograph Hans Gebhardt.
All das, was Gentrifizierungsgegner in Europa fürchten, ist in Beirut eingetreten. Die Trennung zwischen privaten und öffentlichen Sicherheitsdiensten ist aufgehoben. Straßen und Plätze sollen laut Gesetz als öffentliche Räume erhalten bleiben, doch Solidere behandelt sie ganz selbstverständlich als Privatbesitz.
Der in London börsennotierte, privatwirtschaftlich angelegte panarabische Immobilienfonds ist ein Hybrid. Die Regierung übertrug ihm hoheitliche Rechte: Solidere durfte sämtliche Immobilien in der Innenstadt enteignen und wurde nicht nur zuständig für die private Neubebauung, sondern auch für die Infrastruktur für Strom und Wasser.
Der WDR-Journalist Achim Nuhr hat kürzlich den Sprecher von Solidere, Nabil Rached, dazu befragt. »Wir hatten damals einen Deal mit der Stadtverwaltung«, sagte dieser im Radiointerview. »Solidere kümmert sich um alles, weil die Stadtverwaltung nicht konnte, bis sie selbst so weit ist.« Private Hilfe für den Wiederaufbau nach dem Krieg – diesen Eindruck wollte Hariri erwecken. »Nach unserem ersten Börsengang haben wir 650 Millionen Dollar in die Infrastruktur gesteckt«, sagte Rached weiter.
Tatsächlich sei die Gründung von Solidere ein »tollkühnes Gaunerstück«, urteilte Nuhr. Während weite Teile Beiruts, vor allem die von der Hizbollah und der Amal-Miliz kontrollierten südlichen Stadtteile, noch immer zerstört sind, sicherte sich Hariri das Recht auf die private Nutzung der lukrativen Innenstadt auf Kosten der rechtmäßigen Besitzer – und ließ den Rest verfallen.
Niemand weiß, wer außer den Hariris heute hinter Solidere steht. Rached verweigerte die Auskunft. »Wir müssen die Namen der Aktionäre nicht nennen, verstehen Sie? Und die Investoren werden auch nicht immer gleich bekanntgegeben. Einige Leute kennen einige Details. Aber es gibt keine systematische Regelung, die Öffentlichkeit über alle Investoren zu unterrichten«, erfuhr Nuhr von Rached. Von den noch stehenden Ruinen abgesehen, ist der einzige optische Bruch im inneren Stadtbild ein riesiges Transparent mit der Aufschrift »Stop Solidere« an der Fassade des leerstehenden einstigen Luxushotels St. George am westlichen Rand des Yachthafens. Sein Besitzer ist einer der wenigen, die Solidere noch immer die Stirn bieten und gegen die Enteignung kämpfen. Bis heute haben sich über 120 000 Rückkehrwillige bei der zuständigen Behörde gemeldet.

Es ist bekannt, dass Hariri die Richter bezahlte, die seine Enteignungsmaßnahmen nachträglich absegneten und die Höhe der Entschädigungen festlegten. Der Anwalt Mohammad Mughrabi, der viele der Enteigneten vertreten hatte, wurde 2003 mit fadenscheiniger Begründung verhaftet und nur gegen eine hohe Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt.
Im Februar 2005 kam Hariri bei einem Bombenattentat ums Leben. Der Anschlag ereignete sich vor dem Phoenicia-Hotel, am westlichen Rand des von ihm entwickelten BCD. Seine Anteile an Solidere gingen in den Besitz seiner Söhne über.
15 Milliarden Dollar Kapital hat Solidere im BCD investiert. Allein 2006 verdiente das Unternehmen über 100 Millionen Dollar, die Rendite lag bei 40 Prozent. Und während Solidere in den ersten Jahren seiner Baugrundverkäufe etwa 1 000 Dollar pro Quadratmeter in Beirut nahm, ging dieselbe Fläche zehn Jahre später für bis zu 3 300 Dollar weg. Mit dem verdienten Geld plant Solidere ein neues Projekt: 40 Milliarden Dollar will der Fonds im Golfemirat Ajman investieren, um dort eine Retortenstadt für 200 000 Menschen zu bauen. »Die Bauweise wird die Tradition und Kultur der Region widerspiegeln. Ajmans natürliche Schönheit wird erhalten und um eine traumhafte Landschaftsgestaltung ergänzt«, wurde der Vorsitzende von Solidere, Nasser Chammaa, bei der Vorstellung des Projekts von einer Presseagentur zitiert.
Auch für Beirut hat Solidere sich eine Mission gegeben. »Solidere schafft eine Innenstadt, in der die Libanesen den Bürgerkrieg vergessen können«, meint Rached. Das Unternehmen will einen »Garten der Vergebung« einrichten. »Wir wollen einen Versuch unternehmen, diesen Krieg mit seinen Gewalttätigkeiten zu vergessen. Und über Frieden und Toleranz nachzudenken, die traditionell die Hauptelemente der libanesischen Geschichte darstellen.«
Für den libanesischen Autor Elias Khoury ist das Werk Solideres eine Katastrophe. In seinem Theaterstück »Die Erinnerungen von Jakob«, in dem es um den Bürgerkrieg geht, bezeichnet er die Literatur als »letzten Ort der Erinnerung«. »Wie können wir das Gedächtnis dieses Ortes bewahren angesichts einer solch beängstigenden architektonischen Amnesie? In dieser Stadt, die systematisch vom Bürgerkrieg verwüstet wurde, ist die Literatur der einzige Ort, der für die Erinnerung bleibt«, schreibt er.