Die neuesten Erkenntnisse im Fall Benno Ohnesorg

Lizenz zum Töten

Neue Erkenntnisse im Fall Benno Ohnesorg lassen es möglich erscheinen, dass der Polizist Karl-Heinz Kurras kein Einzeltäter war.

Mord verjährt nicht. Es wäre daher noch immer möglich, das Verfahren gegen Karl-Heinz Kurras wegen des tödlichen Schusses auf Benno Ohne­sorg am 2. Juni 1967 wiederaufzunehmen. Das ist zulässig, wenn Zeugen oder Sachverständige vorsätzlich oder fahrlässig falsch ausgesagt haben. Und gelogen haben damals fast alle. So bleibt zwar unklar, ob Kurras an jenem Tag mit einer Tötungsabsicht seinen Dienst antrat. Dass er, einer der besten Schützen der Berliner Polizei, gezielt schoss und nicht in Notwehr handelte, ist mittlerweile erwiesen. Überdies werfen die in der vergangenen Woche vom Spiegel veröffentlichten Enthüllungen eine Reihe von Fragen auf. Dass Kollegen, Politiker und Medien den Täter deckten, war bekannt. Dass Beweismaterial gefälscht wurde, überrascht nicht. Der noch einmal minutiös nachgezeichnete Ablauf lässt jedoch einen neuen Verdacht aufkommen: Kurras war möglicherweise kein Einzeltäter.
Er hat sich bei der Abgabe des Schusses auf einen Kollegen gestützt, wie ein nun aufgetauchtes Foto beweist. Dass Ohnesorg dann nicht in das für die Behandlung von Kopfverletzungen besser geeignete Krankenhaus Westend transportiert, sondern in das Krankenhaus Moabit eingeliefert wurde, mag eine in einer hektischen Situation getroffene Fehlentscheidung gewesen sein. Dass der Rettungswagen für die kaum mehr als vier Kilometer zum Krankenhaus Moabit fast eine Stunde brauchte, lag möglicherweise am Chaos auf den Straßen. Vielleicht war es auch ein Zufall, dass Humayoun T., der aufnehmende Arzt, der Sohn des Wirtschaftsministers des Schahs war.
Humayoun T. bestreitet, dass er die Sanitäter damals ohne nähere Untersuchung mit den Worten »Was bringt ihr mir hier einen Toten?« zurechtwies. In den 90 Minuten zwischen der Einlieferung und dem von den Ärzten vermerkten Zeitpunkt des Todes um 22 Uhr 55 wurde kein Versuch unternommen, Ohnesorg zu helfen. Wäre es allein darum gegangen, einen voreilig schießenden Polizisten zu schützen, hätte es keine bessere Möglichkeit gegeben, als Ohnesorgs Leben zu retten. Angesichts der widersprüchlichen Angaben ist ein klares Bild schwer zu gewinnen. Dass an diesem Tag ein Exempel zur Einschüchterung der Protestbewegung statuiert werden sollte und Ohnesorgs Überleben deshalb unerwünscht war, ist jedoch nicht auszuschließen.
Erich Mielke wurde 1993 wegen des 1931 begangenen Mordes an zwei Polizisten verurteilt. Dass der Tod Benno Ohnesorgs lange zurückliegt, kann daher keine Rechtfertigung dafür sein, das Verfahren nicht wiederaufzunehmen. Es geht dabei weniger um eine eventuelle späte Bestrafung des Täters und auch nicht allein um die Aufklärung eines für die Geschichte der BRD bedeutsamen Ereignisses. Nach der Wahrheit wenigstens zu suchen, wäre ein Bruch mit der Kultur der Straflosigkeit, die im Umgang mit Polizeigewalt üblich ist.
Denn viel geändert hat sich seit 1967 nicht, die Ermittlungen nach dem Tod Oury Jallohs weisen zahlreiche Parallelen zum Fall Ohnesorg auf. Einzig Teile der Justiz scheinen sich vom postnazistischen Korpsgeist emanzipiert zu haben, wie die Vorwürfe des Richters Manfred Steinhoff gegen die Polizei belegen. Für die Angehörigen Oury Jallohs ist das jedoch ein schwacher Trost.