Kapitalismuskritik jetzt auch für Reiche

Macht uns endlich Vorschriften!

Nun regt sich auch beim Weltwirtschaftsforum in Davos Kapitalismuskritik. Denn die Bourgeoisie sorgt sich um ihre Reproduktionsbedingungen.

Traditionell fällt der Sozialdemokratie die Aufgabe zu, sich als Krankenschwester am Bett des Kapitalismus einzufinden, wie Lenin es ausdrückte, und dem unwilligen Patienten bittere Medizin einzuflößen, also Reformen zur Stabilisierung des Wirtschaftssystems durchzusetzen. Derzeit aber herrscht großes Gedränge im Krankenzimmer, nicht nur der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher sinniert über mögliche Behandlungsmethoden für den multimorbiden Patienten.
In diesem Jahr ist die Kapitalismuskritik sogar in Davos angekommen. »Der Kapitalismus in seiner heutigen Form ist nicht länger das Wirtschaftsmodell, das die globalen Probleme lösen kann«, urteilt Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums. »Die Politik muss den Märkten die notwendige Disziplin aufzwingen«, sagt nun sogar Stephen Roach, Manager der US-Investmentbank Morgan Stanley. Das ist fast so, als würde man den Papst am Kondomautomaten erwischen.

Eine Notwendigkeit, die Öffentlichkeit einzulullen, besteht für die in Davos versammelte »globale Elite« nicht. Die diffuse Unzufriedenheit ist keine akute Gefahr, und auch die Protestbewegung beschränkt sich weitgehend auf die Klage, dass man nicht eingeladen ist (»Where are the other 6.9999 billion leaders?«) und mit denen da oben irgendetwas nicht stimmt.
Das Problem hat der US-Milliardär Warren Buffet bereits im Jahr 2005 konstatiert: »Es findet ein Klassenkampf statt, und meine Klasse gewinnt. Aber das sollte sie nicht.« Die Bourgeoisie war in den vergangenen Jahrzehnten zu erfolgreich und muss sich eben deshalb nun um ihre Reproduktionsbedingungen sorgen. Seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten ist jeder Winkel der Erde für die Kapitalverwertung zugänglich, die meisten Regierungen erfüllten den Unternehmern jeden Wunsch, staatliche Maßnahmen und die Schwäche der Gewerkschaften sorgten dafür, dass der Anteil der Lohnabhängigen am gesellschaftlichen Reichtum sank. Besser hätte es eigentlich nicht laufen können.
Da der Begriff Überakkumulation im Weltbild eines Unternehmers keinen Platz hat, fällt es der Bourgeoisie schwer, ihre Lage zu analysieren. Die Einsicht, dass die verzweifelte Suche nach Anlagemöglichkeiten nur neue finanzielle Schaumschlägereien und Krisen produzieren kann, scheint sich jedoch verbreitet zu haben. Deshalb wird das Drängen auf eine staatliche Regulierung des Finanzmarkts immer vernehmlicher. Sogar die wachsende soziale Ungleichheit wurde in Davos beklagt, vermutlich weniger wegen schrecklicher Gewissensbisse oder aus Angst vor Klassenkämpfen als aufgrund der Erkenntnis, dass irgendjemand die Produkte der Unternehmen auch kaufen muss.

Doch anders als die globalisierte Bourgeoisie denken Politiker national. Der britische Premierminister David Cameron will die Finanztransaktionssteuer nicht, weil sie dem Bankenstandort London schaden könnte, während Bundeskanzlerin Angela Merkel Lohnerhöhungen als Gefahr für die deutschen Exporte betrachtet. Überdies war die Bourgeoisie auch in ideologischer Hinsicht zu erfolgreich. Der Wirtschaftsliberalismus ist zu einem Glauben geworden, vor allem für rechte Angehörige der Mittelschichten, die ihrem Hass auf die Armen eine scheinbar objektive Begründung geben wollen.
Solche Probleme ließen sich velleicht überwinden, doch die geforderten Regulierungsmaßnahmen können allenfalls die Risikobereitschaft der Investoren ein wenig mindern. Neue Anlagemöglichkeiten schaffen sie nicht, und nichts deutet darauf hin, dass ein neuer Akkumulationszyklus beginnen könnte. Potentielle Konsumenten gäbe es zwar genug, von A wie Afghanistan bis Z wie Zimbabwe reicht die Liste der Länder, deren Einwohner von den Produkten der Industriegesellschaft wenig zu sehen bekommen. Sie zu integrieren, würde aber eine demokratische Planwirtschaft auf globaler Ebene erfordern, und so weit geht der Reformwille der in Davos Versammelten auch wieder nicht.