Die Inklusionspolitik an staatlichen Schulen

Kinder ohne Lobby

In vielen Bundesländern kommt die schulische Inklusion behinderter Kinder kaum voran. Bei der Integration von Schülern mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten wird sogar versucht, Geld zu sparen.

Das in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen festgeschriebene Ziel, Barrieren abzubauen und den betroffenen Personen die vollständige Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, ist mehr als begrüßenswert. Auch Deutschland hat sich 2009 dazu verpflichtet, behinderten Menschen eben diese Grundrechte zuzugestehen. Das Problem ist, dass die Haushaltspolitiker die Inklusion vor allem kostengünstig verwirklichen wollen. Bei der schulischen Inklusion von Kindern mit Behinderungen in Regelschulen sehen sie die Möglichkeit, die etwa 2 000 deutschen Sonderschulen in Deutschland zu schließen. Damit würden Betriebskosten und Verwaltungspersonal eingespart und mögliche Gebäude- oder Grundstücksveräußerungen könnten den klammen Kommunen zu Einnahmen verhelfen. Allein das Grundstück der Hamburger Förderschule am Fischmarkt würde der Stadt, dank seiner Lage, einige Millionen Euro einbringen.

Wenn man derzeit die Inklusionsbemühungen der einzelnen Bundesländer betrachtet, gewinnt man den Eindruck, dass der pädagogische Anspruch an eine »Schule für alle« den Vorgaben schnöder Haushaltspolitik gewichen ist. Kritische Wissenschaftler, Gewerkschaften und Elternvertreter stellen mittlerweile mit Erschrecken fest, dass in Deutschland das Projekt der Inklusion mit Sparmaßnahmen verbunden wird. »Mit dem Rückgriff auf semiakademische Prosa, einer Flut an Gutachten und Erklärungen werden reale Einsparungen und Kürzungen im gesamten Bildungsbereich verschleiert«, sagt Birgit Herz vom Institut für Sonderpädagogik der Leibniz-Universität Hannover. In Niedersachsen tritt dies deutlich zutage. Die Landesregierung hat den Beginn der Inklusion in den Schulen zwar um zwei Jahre nach hinten auf das Jahr 2013 verlegt, um mehr Zeit zu haben, die schulische Inklusion vorzubereiten. Die derzeitigen Pläne deuten jedoch auf ein Sparkonzept hin. Mit nur 20 zusätzlichen Stellen landesweit an Grundschulen soll die Inklusion gewährleistet werden. »Das ist bei 1 800 Grundschulen nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagt der GEW-Landesvorsitzende Eberhard Brandt. Die GEW verlangt eine deutlich bessere Personalausstattung, damit die Inklusion gelingen kann. Dazu sei ein Nachtragshaushalt unumgänglich, so die Gewerkschaft.
Geplant ist unterdessen ohnehin nur eine verschlankte Version der Inklusion. Der Entwurf für ein neues Schulgesetz gesteht den Eltern zwar das Antragsrecht auf inklusive Beschulung zu, allerdings mit der Einschränkung, dass die Bedingungen dies zulassen müssen. »Die Inklusion in Niedersachsen bezieht sich derzeit nur auf den Förderschwerpunkt Lernen. Die zumeist in privater Trägerschaft betriebenen Schulen für emotionale und soziale Entwicklung bleiben bislang von den Reformen unberührt«, beschreibt Herz die Situation. Schulen für körperlich und geistig behinderte Schüler werden in den Plänen der Landesregierung in Bezug auf die Inklusion ebenfalls nicht genannt. Ihre Inklusion wäre allein schon wegen der baulichen Voraussetzungen nicht umsonst zu haben. In den südlichen Bundesländern sieht es nicht anders aus. In Hessen ist die Inklusion weiterhin nicht zwingend vorgeschrieben, die Eltern können die inklusive Beschulung ihrer Kinder nicht einklagen.

In Berlin wurden die Reformpläne vorerst ausgesetzt. Die Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) will das Konzept für das gemeinsame Lernen überdenken. Die Verwaltung signalisierte, dass die Überarbeitung ein Jahr in Anspruch nehmen könnte. Der Grundschulverband begrüßte den Schritt, denn die bisherigen Pläne seien nicht ausreichend finanziert gewesen. Dass nennenswerte Verbesserungen erarbeitet werden, erscheint unwahrscheinlich. In der Vergangenheit wurde im Berliner Bildungsbereich schon mehrmals gekürzt. »Den Masterstudiengang für Sonderpädagogen hat Berlin auf zwei Semester verkürzt. Da es sich nunmehr um keinen vollakademischen Abschluss mehr handelt, werden Sonderpädagogen zu deutlich schlechteren Konditionen eingestellt«, sagt Herz.
Die Verunsicherung an den Schulen ist angesichts der zahlreichen Sparkonzepte groß, in der Öffentlichkeit wird das jedoch kaum wahrgenommen. Der Blick auf die Inklusion ist geprägt von der Bildersprache der Medien. Und diese vermitteln den Eindruck eines glücklichen Miteinanders von körperlich oder geistig behinderten und vermeintlich »normalen« Kindern. Die Realität sieht anders aus. Gerade in den Großstädten sind es vor allem Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen, die den Großteil der Inkludierten ausmachen. Immer mehr Schüler sind traumatisiert durch Gewalt in der Familie oder Fluchterfahrungen. Aufmüpfige Jugendliche, die gemeinsam mit Kindern aus bürgerlichen Wohngegenden wie Grunewald und Blankenese schlecht ausgestattete weiterführende Schulen besuchen, sieht man hingegen selten. Gerade bei diesen Jugendlichen wird bei der Inklusion gespart. Sie verfügen über keine Lobbyverbände, die sich für eine bessere Ausstattung aussprechen. Sie besuchen Gesamt- oder Stadtteilschulen, während gutsituierte Eltern ihre Kinder aufs Gymnasium schicken.
Schwieriger ist es schon, körperlich oder geistig behinderte Kinder ohne zusätzliche Kosten zu integrieren. Hier mahnen Interessenverbände schon lange eine bessere Finanzierung an. Und die Inklusion dieser Kinder stößt angesichts der schlechten Ausstattung viel eher an ihre Grenzen. Warum sollte ein auf Pflege angewiesenes Kind gerade in den 1,4 Stunden zur Toilette müssen, in denen in Hamburg ein zusätzlicher Sonderpädagoge in der Klasse ist, pro Woche wohlgemerkt? Kein Wunder, dass in Hamburg die Anmeldezahlen an den Körper- und Geistigbehindertenschulen nicht zurückgehen. Da nützt es auch nichts, dass der SPD-Senat die zusätzliche Betreuung großzügig auf 3,5 Stunden in der Woche mit kostengünstigen Erziehern oder Sozialpädagogen aufstockt.

Um die Inklusion zu finanzieren, kürzt der Hamburger Senat sogar bei den noch bestehenden Sonderschulen. Bislang hatten alle Sonderschulen ein Anrecht auf zusätzliche Sprachförderstunden, vor allem um Kinder und Jugendliche aus nicht deutschsprachigen Familien zu fördern. Diese Stunden sollen zum neuen Schuljahr an allen Sonderschulen ersatzlos gestrichen werden. In einem offenen Brief haben sich die Schulleiter aller Sonderschulen an den Hamburger Bildungssenator Ties Rabe (SPD) gewandt, um ihn von diesem Plan abzubringen. Die Streichung der Sprachförderstunden empfinden sie »als Missachtung der Förderbedürfnisse der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen«. Rabe entgegnete, der offene Brief sei nicht förderlich.
Angesichts dieser Versuche, bei der Inklusion zu sparen, fordern nun einige Bildungsforscher zumindest einen teilweisen Erhalt der Sonderschulen. Der Berliner Erziehungswissenschaftler Rainer Winkel hält ein ähnlich undogmatisches System wie in Skandinavien für angebracht. Bei guter Ressourcenausstattung gibt es dort ganz selbstverständlich hochprofessionelle Sonderschulen – oftmals auf dem Gelände der Gesamtschulen. Und Finnland, das bei den Pisa-Studien regelmäßig vorne liegt, hat immer spezialisierte Schulen bereitgehalten, um Kinder mit Behinderungen optimal zu fördern.