Die Lage in Syrien

Aber die Datteln waren gut

Ungeachtet zahlreicher Konferenzen und Vermittlungspläne dauern die Massaker in Syrien an. Der Opposition gelang nur eine scheinbare Einigung.

Stellen wir uns vor, dass die Äußerungen west­licher Politiker über Syrien längst mit einem Sprechautomaten erstellt würden. Dann müssten sie wohl genau so klingen, wie die Forderungen, die der britische Außenminister William Hague einen Tag vor dem Treffen der »Freunde Syriens« in Istanbul zu Protokoll gab: Das syrische Regime müsse umgehend den Sechs-Punkte-Plan Kofi Annans umsetzen, alle Gewalttätigkeiten beenden, einen politischen Übergangsprozess einleiten, humanitäre Hilfe bereitstellen, freien Zugang für Journalisten ermöglichen und alle politischen Gefangenen freilassen.
Es war derselbe Tag, an dem ein Sprecher des Regimes im Staatsfernsehen verkündete, der Kampf um die Herrschaft in Syrien sei beendet. Man wolle nun Reformen ermöglichen und Stabilität gewährleisten. Die tägliche Opferzählung der lokalen Demonstrationskomitees meldete an jenem Samstag Ende März 65 Tote.
Die diplomatischen Manöver und redundanten Kommuniqués rund um das politische und humanitäre Desaster in Syrien sind ein pflichtschuldiges Getöse, an dem sich alle gerne beteiligen, die den Eindruck erwecken wollen, der syrische Konflikt lasse sich ohne eine Umwälzung des dort bestehenden Herrschaftssystems lösen. Dabei spielen sie alle in Wahrheit auf Zeit und hoffen, die leidige Angelegenheit mit den demons­trierenden Syrern werde sich in irgendeiner Form doch noch von selbst erledigen. Notfalls mit der Beantwortung der Frage, was schneller an sein Ende kommt, der Widerstandsgeist der syrischen Bevölkerung oder der Munitionsvorrat des Regimes.
Die Vermittlungsmission von Kofi Annan im Auftrag der UN und der Arabischen Liga dient dabei genau dem Zweck, von dem sich alle Beteiligten offiziell distanzieren: Zeit zu schinden, um die Frage hinauszuschieben, in welcher Form in Syrien sinnvoll interveniert werden kann und muss. Zeit zu gewinnen auch, um zu sehen, ob das Regime es nicht doch schafft, die Lage so weit unter Kontrolle zu bekommen, dass man mit etwas Großzügigkeit über die Leichenhaufen hinwegsehen könnte. Die kurzfristige Erleichterung durch die Annan-Mission dürfte dabei in Russland und China am größten sein, ihre Blockade einer Syrien-Resolution im UN-Sicherheitsrat, die international kritisiert wurde, weckt nun geringeres mediales Interesse. Dass die beiden Mächte zudem über keine eigene tragfähige Idee für den weiteren Umgang mit dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad verfügen, außer ihm de facto den Rücken für Massaker freizuhalten und wie Russland sogar Munition zu liefern, ist von geringem Belang, solange sie nur Kofi Annan unterstützen.

Die US-Regierung ist sowieso seit geraumer Zeit hauptsächlich damit beschäftigt, dem syrischen Regime zu signalisieren, dass man nichts Ernsthaftes unternehmen werde. Die bemerkenswertesten Initiativen der Außenministerin Hillary Clinton bestehen darin, zu verhindern, dass Verbündete der USA wirkungsvoll gegen Assad vor­gehen könnten. In der Türkei sprach sie sich strikt gegen die Einrichtung humanitärer Korridore aus, und die Saudis versuchte sie, davon zu überzeugen, von der Forderung nach Waffenlieferungen an die syrische Opposition abzurücken. Dass Clinton nach über einem Jahr Aufstand in Syrien immer noch darauf beharrt, man wisse eigentlich nicht, wer da gegen das Regime kämpfe, kann eigentlich nur bedeuten, dass man auch nie danach gefragt hat. Es hört sich paradox an, aber seine effektivste Unterstützung erhält das Assad-Regime aus Washington.
Die Golfstaaten unter Führung Katars und Saudi-Arabiens haben die unnachgiebigste Position gegenüber Assad eingenommen. Mitte März haben die Saudis sogar offiziell Jordanien gebeten, die Grenze zu Syrien für Waffenlieferungen an die Aufständischen zu öffnen. Ob, in welchem Ausmaß und seit wann tatsächlich Waffen von den Golfstaaten nach Syrien geliefert werden, ist unklar. Moderne Ausrüstung, zumal panzerbrechende Waffen, scheinen die syrischen Aufständischen jedenfalls bislang nicht zu besitzen, in den vergangenen Wochen sind sogar immer wieder Meldungen aufgetaucht, die von einer immer schlechteren Versorgungslage der Rebellen sprechen.
Eine ganz andere Frage wäre noch, wem die Saudis in Syrien zu Hilfe kommen wollen: nur den Muslimbrüdern oder auch salafistisch-jihadistischen Gruppen? Demokratische Aktivisten, liberale oder gar säkulare Gruppen dürften kaum auf saudische Unterstützung rechnen können. Unklar ist auch, inwieweit die Golfstaaten jenseits verbaler Attacken tatsächlich gegen Assad vorgehen werden, wenn sie sich dabei so weit vorwagen müssten, dass sie erst einmal erkennbar allein dastehen.
Die Arabische Liga ist jedenfalls nach der überraschenden Initiative, die sie nach jahrzehntelanger Passivität während der Revolte in Libyen zeigte, mit dem Treffen in Bagdad Ende März wieder sanft in die Apathie zurückgeglitten. Es war wieder alles so wie früher, es kam nur eine Handvoll Staatschefs, der Präsident der Komoren war zwar anwesend, Saudi-Arabien und Katar als bedeutende Staaten schickten dagegen nur ihre Botschafter. Das Catering besorgten 600 türkische Köche, und während die Vertreter der Arabischen Liga in Blattgold eingewickelte Datteln verzehrten, gab man der Mission Kofi Annans den Segen.

Den beim vorigen Treffen verabschiedeten Aufruf, Assad solle abtreten, wiederholte man nicht. Der irakische Gastgeber und Ministerpräsident Nouri al-Maliki hatte vor dem Gipfel die weitergehenden Forderungen der Golfstaaten abgelehnt und verhindert, dass Vertreter der syrischen Opposition eingeladen werden. Der Schiit Maliki ist für die Führer der Golfstaaten sowieso eine Unperson. Sie betrachten ihn als Verbündeten des Iran, und Maliki agiert auch immer mehr so. Er lässt ungehindert iranische Transportmaschinen durch irakischen Luftraum nach Syrien fliegen, auf kritische amerikanische Nachfragen gab er zu verstehen, er habe keinen Anlass anzunehmen, dass die Iraner so etwa Waffen an Assad liefern könnten.
Westlicher Imperialismus und US-Einflussnahme, könnte man da fast meinen, sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Als Kommentar zum Treffen der »Freunde Syriens« in Istanbul sagte Maliki dann, nach einem Jahr sei das syrische Regime nicht gefallen, und es werde nicht stürzen, warum auch? Man lehne sowohl die Bewaffnung der Aufständischen wie auch einen Regimewechsel in Syrien ab. Der irakische Ministerpräsident ahnt wohl, dass ein Sturz Assads ihm selbst schaden könnte.
Die Türkei befindet sich wegen Syrien in einem Dilemma, man will eine bedeutende Macht im Nahen Osten sein, sich aber lieber nicht mit dem Iran anlegen. Das eine würde aber das andere bedingen. Und so geht es hin und her. Die Forderungen nach humanitären Korridoren in Syrien etwa wurden so oft plakativ vorgetragen, wie sie folgenlos geblieben sind. Der jüngste Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Teheran als »ehrlicher Makler« in Sachen Atompolitik und Syrien war vor allem von bizarren inneriranischen Intrigen geprägt. Präsident Mahmoud Ahmadinejad tauchte als Gesprächspartner kaum auf, der religiöse Führer Ali Khamenei setzte sich dafür in Szene und betonte, dass man Assad weiter stützen werde.
Was nicht besonders überraschend war. Aber was wollte Erdoğan in Teheran eigentlich erreichen? Zurück in Ankara sagte er unumwunden, er wolle nicht mehr behaupten, dass er in Bezug auf Syrien noch etwas erwarte oder Hoffnung habe. Die Türkei hat mittlerweile wie viele andere westliche Länder ihre Botschaft in Syrien geschlossen, der Busverkehr ist eingestellt worden, nun werden auch die Flüge nach Syrien ausgesetzt. Das ist, was die Türkei tun kann, ohne etwas zu tun.
Die syrische Opposition ist unterdessen weiterhin fragmentiert und handlungsunfähig. Eine Konferenz in Istanbul sollte zwar das Bild einer geschlossenen Kraft präsentieren, die sich hinter dem Syrian National Council als zumindest formalem Ansprechpartner versammelt, aber das Arrangement gelang nur teilweise, weil immer wieder Delegierte offensichtlich wutentbrannt aus dem Sitzungssaal rannten. Eine wichtige Rolle spielt auch die Kurdenproblematik. Der syrische Ableger der PKK, die PYD, ist dabei, mit Unterstützung des Assad-Regimes die Kontrolle über die syrischen Kurdengebiete zu übernehmen. Morde an unabhängigen kurdischen Aktivisten lassen Düsteres ahnen. Denkbar wäre der Kampf der Free Syrian Army gegen PKK-Milizen im Solde Assads. Der türkische Generalstab wird sich über all das seine eigenen Gedanken machen.

Die Flüchtlingslager wachsen, der Druck, eine Lösung für Syrien zu finden, wird nicht geringer werden. 17 000 Syrer sollen es in der Türkei sein, 6 000 im Libanon, wobei eine Erklärung für diese immer noch moderaten Zahlen sein könnte, dass es möglicherweise bis zu 200 000 Binnenflüchtlinge in Syrien gibt. Navi Pillay, die Menschenrechtsbeauftragte der UN, hat offiziell darauf hingewiesen, dass das syrische Regime gezielt Kinder in hoher Zahl zu Opfern mache, als Geiseln oder Informanten, gefügig gemacht mit Folter, unmenschlichen Haftbedingungen und manchmal auch Knieschüssen.
Das Ergebnis des Treffens der »Freunde Syriens« war eher dürftig, der französische Außenminister Alain Juppé wünschte sich eine Frist für die Umsetzung des Annan-Plans, William Hague sprach sehr originell davon, Druck auf Assad auszuüben, ihr deutscher Kollege Guido Westerwelle warnte vor einem »Flächenbrand«, als ob es einen solchen nicht längst gäbe, und Clinton erinnerte an gebrochene Versprechen Assads.
Immerhin hat die EU jüngst beweisen, dass sie noch zu schnellen Reaktionen fähig ist: Sie sorgte umgehend dafür, dass Asma al-Assad, die syrische »First Lady«, keine Luxusartikel mehr in London oder Paris bestellen kann, nachdem entsprechende E-Mails der Assads publik geworden waren. Asma al-Assad wird es überleben. Viele Syrier hingegen werden die nächsten Tage, Wochen und Monate nicht überleben.