Eine Ausstellung über Kunst aus Los Angeles in Berlin

Send me postcards from L.A.

Die Berliner Ausstellung »Pacific Standard Time« stellt die Kunstszene von Los Angeles aus den Jahren 1950 bis 1980 vor.

Auf so etwas hat man in Berlin lange gewartet: Endlich eine Ausstellung, in der die Gegenkultur der sechziger und siebziger Jahre und ihre Kunst gefeiert werden. »Pacific Standard Time. Kunst in Los Angeles 1950–1980« ist eine große Retro­spektive der wilden Jahre an der Westküste. Künstlerische Experimente in Malerei, Performance, Fotografie und Relief wie auch Arbeiten mit gesellschaftskritischem Inhalt werden hier vorgestellt. Konzipiert wurde die Ausstellung vom Getty Research Institute in Los Angeles. Leider wird sie in Europa in nur einer einzigen Stadt gezeigt: in Berlin.
Bei Los Angeles denken viele unwillkürlich an Hollywood, Surfer und Palmen. Als Zentrum der amerikanischen Kunst im 20. Jahrhundert gilt nach wie vor New York. Los Angeles jedoch hat ebenfalls eine große Bedeutung gehabt. Beide Städte haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu Megacitys der Kunst entwickelt. Los Angeles war seit dem Zweiten Weltkrieg ein Anziehungspunkt für Lebenskünstler jeglicher Couleur geworden, eine seltsam strukturlose städtische Agglomeration, die geradewegs in die Wüste mündete und in ihrer scheinbaren Geschichtslosigkeit und Offenheit auf viele Menschen, insbesondere Emigranten, im guten Sinne unbestimmt, keiner Tradition verpflichtet und dadurch attraktiv wirkte. Auch konnte man hier mit dem guten Gefühl leben, dass alles, was man tut, nur für den Augenblick gültig ist. Von Traditionen löste man sich in der kalifornischen Unstadt, in der jeder auf das große Erdbeben wartete, schneller als anderswo. Eine Fixierung auf das Erbe der Vergangenheit, wie in Europa, fand hier nicht statt. Hier konnten Künstler den Neubeginn wagen, wenn sie wollten jeden Tag.
Los Angeles war in den frühen vierziger Jahren sogar noch stärker als New York zu einem Zentrum der europäischen Emigration geworden. »The New Weimar« nannte man Los Angeles damals. Lion und Marta Feuchtwanger, Thomas und Heinrich Mann, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Alfred Döblin, Ludwig Marcuse, Bruno Frank, Hanns Eisler, Bertolt Brecht, Kurt Weill, Albert Einstein, Theodor W. Adorno, Arnold Schönberg, Arthur Rubinstein, Vladimir Horowitz waren vor den Nazis hierher geflohen. Existentielle Aufbrüche und ständige Wandlungsbereitschaft, Modernität und Archaik in der Wüste: Los Angeles war die Stadt der schroffen Gegensätze, die in der Kunst ihren Ausdruck fanden.
Im ersten Teil der Ausstellung wird der Aufstieg der kalifornischen Kunstszene von 1950 bis 1980 nachgezeichnet. Hier finden sich die  Werke großer amerikanischer Künstler wie Bruce Nauman, David Hockney, Edward Kienholz oder Ed Ruscha. Das Bild der riesigen menschenleeren Tankstelle, »Standard Station. Amarillo Texas« von Rusha aus dem Jahr 1963, ist eines dieser Meisterwerke. Beeindruckend auch Bruce Naumans frühe Arbeit »Four Corner Piece« (1970), die sich mit den Formen der Überwachung beschäftigt: Der Ausstellungsbesucher bewegt sich durch ein von Kameras observiertes Minilabyrinth. Auf den Monitoren, die er passieren muss, begegnet er sich selbst, von hinten aufgenommen. Die Enge der Korridore verstärkt das Gefühl der Beklemmung.
Gezeigt werden auch Werke weniger bekannter Künstler, die es zu entdecken gilt: Alle Spielarten der Beatnik-, Pop- und Hippiekultur bis hin zu Happening, Performance und Konzeptkunst sind hier vertreten. Großartig das psychedelisch anmutende Gemälde »Blue Planet« (1965) von Helen Lundberg, das glatt als Plattencover für die Byrds getaugt hätte. Auch eine Auswahl von Werken der feministischen Künstlerin Judy Chicago wird gezeigt. Die heute 72jährige ist eine der wenigen in der Ausstellung vertretenen Frauen. Sie habe sich sehr über die Einladung zur Teilnahme gefreut, »die Kunstwelt damals in Los Angeles war leider maskulin dominiert«, sagte sie bei der Eröffnung. Dennoch habe man als Künstlerin damals nirgendwo so gut arbeiten können wie an der Westküste, denn es habe eine große gesellschaftliche und geistige Offenheit gegeben. Judy Chicago gründete Anfang der siebziger Jahre die Galerie »Women House«, die Künstlerinnen förderte. In Berlin herrsche heute eine Atmosphäre wie damals in Los Angeles, sagte Chicago, es sei eine große, chaotische und unübersichtliche Stadt, bezahlbar und mit viel »open space«.
Der in der Anti-Vietnam-Bewegung aktive Künstler Sam Francis hat der Stadt Berlin mit seinem riesigen Wandgemälde »Berlin Red« (1969–70) ein Denkmal gesetzt. Große, mal aggressiv, mal hedonistisch wirkende Farbcluster prägen das Bild. Der Künstler, der 1992 den lukrativen Auftrag, für den Deutschen Bundestag in Bonn ein Wandgemälde anzufertigen, abgelehnt hatte, engagierte sich bis zu seinem Tod 1994 in der Umweltpolitik und gründete 1987 das Sam Francis Medical Research Center. Hier wird der Zusammenhang bestimmter Erkrankungen mit Umweltschädigungen erforscht. Unheimlich wirkt die Installation »Volksempfänger« (1976) von Edward Kienholz, die aus vielen alten Volksempfängern besteht. Der Künstler lebte 1973 als DAAD-Stipendiat in Berlin und kehrte bis zu seinem Tod im Jahr 1994 immer wieder in die deutsche Hauptstadt zurück.
»Grüße aus L.A.« ist der zweite Teil der Ausstellung überschrieben. Hier wird die Künstler- und Galeristenszene vorgestellt. Man erfährt etwas über »Action«-Ausstellungen und die ersten Pop-Vernissagen. Tempo, Schnelllebigkeit und profane Alltäglichkeit waren Prinzipien, die dem traditionellen Verständnis einer höheren Werten verpflichteten »Kunst für die Ewigkeit« entgegengesetzt wurden. Für die Pop Art war L.A. richtungsweisend, Begriffe wie »L.A. Look« und »Cool School« tauchten auf. Großartig sind auch die streng-minimalistischen Lichtinstallationen von James Turrell und Edward Moses.
Auf Fotos dokumentiert sind spektakuläre Kunstexperimente, etwa Mason Williams’ Himmelsschreiber-Performance im Apple Valley mit dem Titel »Sunflower« (1967) oder das Happening mit dem Titel »Helicopter Sky Painting«, bei dem Flugzeuge farbige Kondensstreifen über den Himmel ziehen. In Sam Francis’ »Snow painting« (1967) schaffen Skifahrer mit leuch­tenden Fackeln im Schnee ein eindrucksvolles Gesamtkunstwerk. Solche Fotos zeigen die flüchtigen Land-Art-Experimente vieler Künstler der Westküste.
Mit der Infrastruktur der Stadt beschäftigen sich die Fotografien des Schauspielers und Regisseurs Dennis Hopper. Wegen des raschen Ausbaus der Freeways galt Los Angeles in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern als eine für Autos entworfene Stadt. Hopper fotografierte die Stadt aus dem Auto heraus, was den Fotos eine eigentümliche Perspektive verleiht. Eine ironischen Affirmation der Klischees von L.A. ist David Hockneys berühmtes Gemälde »A Bigger Splash« (1967). Vor einem aseptisch wirkenden Bungalow mit Swimming Pool und Sprungbrett spritzt eine Wasserfontäne hoch. Der »Splash« scheint die einzige Bewegung auf dem Gemälde zu sein, ansonsten herrscht Totenstille. Robert Graham stellte mit nackten Frauenfiguren Strandszenen nach, ein im Glashaus musealisiertes Leben. Karl Benjamin gelingt es, das Hollywood-Image von L.A. in seinem in schrillen Farben gehaltenen Gemälde »Stage II« (1958) in eine abstrakte Formensprache umzusetzen.
Die Abteilung »Public Disturbances« beschäftigt sich mit zeitgenössischen Kunstausstellungen in L.A., die seinerzeit zu heftiger öffentlicher Kritik und sogar zu Verhaftungen umstrittener Künstler führten. Ein Plakat in der Ausstellung zeugt vom politischen Engagement der damaligen Künstlerszene. »Angry arts against the war« steht über der Aufforderung, an einem »Peace Walk« in La Cienage & Melrose teilzunehmen. Der Maler Irving Petlin wurde während seines Aufenthalts in Paris zu Zeiten des Algerien-Kriegs politisiert. Zurück in L.A. gründete er das »Artists’ Protest Committee« (APC). Bis auf die Los Angeles Free Press ignorierten alle Medien die Aktionen der Künstler gegen den Vietnam-Krieg. Um auf sich aufmerksam zu machen, stellten die Künstler den »Artists’ Tower of Protest« aus Schrottteilen in der Nähe vom Sunset Boulevard auf. Den Turm umgaben über 400 bedeutende Werke Bildender Kunst, uunter anderem von Frank Stella und Roy Lichtenstein. Das Gelände war daraufhin über viele Woche Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen. Fast jede Nacht gab es Versuche, den Turm, die Kunstwerke und das Schild mit der Aufschrift »Künstler protestieren gegen den Vietnam-Krieg« zu zerstören. Nun berichtete das Fernsehen regelmäßig über die Aktionen.
Die Ausstellung »Directions in Collage«, 1962 von Walter Hopps kuratiert, löste ebenfalls eine Welle der Empörung aus. Mitglieder der American Legion und der Veterans of Foreign Wars fielen wütend in das Museum ein, weil sie die amerikanische Nation verhöhnt sahen. Besonders empörten sie sich über die Collage »Macks« von George Herms, in der eine zerfledderte und dreckige amerikanische Flagge neben einem Fahrradschlauch und einigen verrosteten Werkzeugen zu sehen war.
Protest rief auch ein Plakat hervor, mit dem für die Ausstellung »War Babies« geworben wurde: Das Foto zeigt die vier beteiligten Künstler essend an einem Tisch. Der afroamerikanische Künstler Ed Bereal isst ein Stück Wassermelone, der jüdische Künstler Jerry Bell einen Bagel, der asiatische Amerikaner Ron Miyashiro hält Stäbchen in der Hand, der irischstämmige Joe Goode verzehrt eine Makrele. Als Tischtuch für das multiethnische Dinner dient eine amerikanische Flagge. Das Foto erschien just zu der Zeit, als in Kalifornien die berüchtigten Anhörungen des Komitees für unamerikanische Umtriebe stattfanden, und löste eine wütende Kontroverse aus, die deutlich machte, wie stark der Rassismus in den USA verbreitet war, auch am »liberalen« Pazifik. Die Huysman Gallery musste in der Folge schließen. Vergeblich versuchte der Kurator zu erklären, dass sich niemand über dieses Foto aufgeregt hätte, wenn hübsche junge Cheerleaderinnen die amerikanische Flagge befleckt und mit Krümeln übersät hätten.
Der letzte Teil der Ausstellung ist dem Fotografen Julius Shulman, dem bedeutendsten Architekturfotografen der amerikanischen Nachkriegsgeschichte, gewidmet. Gezeigt werden nicht nur Fotos berühmter Bauten von Architekten der Moderne wie Frank Lloyd Wright, Frank Gehry oder Richard Neutra, sondern auch Aufnahmen von ganz gewöhnlichen Warenhäusern, Tankstellen und Hotels. Eine Fotografie zeigt das 1960 von dem Architekten John Lautner entworfene ufoähnliche Haus »Chemosphere« im San Fernando Valley, das als Filmkulisse in Brian De Palmas Film »Der Tod kommt zweimal« diente.
Die Retrospektive stimmt leicht nostalgisch und man fragt sich, was mit der Kunstszene in Los Angeles und Umgebung nach dem Ende der siebziger Jahre passiert ist.

»Pacific Standard Time. Kunst in Los Angeles 1950–1980«. Martin-Gropius-Bau, Berlin. Bis 10. Juni