Das Projekt »Unbedingte Schule«

Raus aus den Rastern

Mit der Beschulung von Kindern unter Zwang und Kontrolle hat sich längst auch die Linke arrangiert. Gegenentwürfe zur Regelschule sind rar, erst recht solche, die versuchen, Bildung grundsätzlich zu verändern – wie die Initiative »Unbedingte Schule« in Nordrhein-Westfalen.

Früher galt es in der Theorie und Praxis gesellschaftskritischer Bewegungen einmal als selbstverständlich: Die Schule ist eine Disziplinaranstalt, die abgeschafft gehört, denn dort werden Menschen zugerichtet, zu willfährigen Arbeitskräften verbogen, auf die kapitalistische Verwertung vorbereitet. Die Schule nimmt die allgemeine gesellschaftliche Zumutung vorweg, normiert die Subjekte, indem sie sie Kontrollen und Leistungszwängen unterwirft.

Heutzutage gibt es kaum mehr eine radikale Schulkritik, auch in der Linken hat man sich mit der Institutionalisierung des Lernens abgefunden. Hier und da wird der politische und pädagogische Umgang mit den Ergebnissen der Pisa-Studien moniert, Kritik am Schulsystem selbst beschränkt sich aber auf die Forderung nach der Einheits- oder Gesamtschule, die Schulpflicht als solche wird unumwunden verteidigt oder einfach hingenommen.
Eine Initiative aus Alfter, einer kleinen Gemeinde zwischen Köln und Bonn, möchte sich damit jedoch nicht abfinden. Sie nimmt die Kritik wieder auf und fordert eine Schule, die keine Schule mehr sein soll, möchte Unterricht, Didaktik, Methodik und alle übrigen pädagogischen Begrenzungen des Lernens aufheben. »Bildung sprengt das Korsett von Unterrichtsstunden. Sie nimmt sich ihre Zeit. Sie lässt sich nicht in Klassenzimmer sperren, ins Schema von ›Standards‹ oder ›Kompetenzrastern‹ pressen. Noten und Zeugnisse messen nicht Bildungserfolg, sie pervertieren, was Bildung sein könnte, sein muss!« schreibt die Initiative in einer Grundsatzerklärung. »Es reicht nicht aus, aus Reformelementen etwas Neues zusammenzubasteln. Um eine gute Schule zu gründen, müssen wir Schule wirklich neu denken.«
Eine solche wirklich neu gedachte Schule sei die »unbedingte Schule«, die der Initiative auch ihren Namen gegeben hat. Sie soll, ähnlich wie Jacques Derridas »Université Sans Condition«, die dieser 2001 als Bildungsutopie in Frankreich anregte, eine Schule ohne Bedingungen sein. Was das konkret heißen könnte, hat die Initiative so skizziert: »An der unbedingten Schule kann sich unabhängig vom Alter jede und jeder mit jeder und jedem zusammentun. Unterricht ist die Ausnahme. Wer ihn wünscht, organisiert ihn. Es wird gespielt. Projekte werden durchgeführt. Hier befinden sich zwei im Gespräch. Dort arbeiten drei an einem Computer. Eine oder einer liest die ›Phänomenologie des Geistes‹. Jemand betrachtet die Wolken am Himmel. Eine Gruppe baut am Schulhaus weiter. Keine Pausenglocke unterbricht die Konzentration, kein für alle verbindlicher Takt trennt das Lernen vom Leben.«

Seit zwei Jahren gibt es die Initiative, derzeit wird verhandelt, ob die »unbedingte Schule« überhaupt zugelassen wird. Zahlreiche behördliche Vorgaben stehen dabei im Wege, auch solche, die das Konzept in seiner emanzipatorischen Intention grundsätzlich in Frage stellen. Die Initi­ative müsste sich auf Kompromisse einlassen, auf die sich eine »unbedingte Schule« gar nicht einlassen kann. Schließlich soll sie Kinder schon ab drei Jahren aufnehmen, entgegen der herkömm­lichen institutionellen Grenze zwischen Kindergarten und Schule. Sie soll den Unterricht soweit auflösen, dass jede Reglementierung des Wissens über Lehrpläne wegfällt, dass zum Beispiel manche Kinder erst mit elf Jahren das Schreiben lernen, andere hingegen schon mit drei.
Abschlüsse sollen, wie bei Privatschulen üblich, extern gemacht werden können. »Dennoch gilt aus Sicht der unbedingten Schule: Abschlüsse werden gesellschaftlich extrem überbewertet. Sie sind keine Nachweise von Bildung, sondern Hemmnisse dafür.« Dies irritiert allerdings die Verwaltung im derzeitigen Genehmigungsverfahren. Es müsse gewährleistet sein, dass auch an der »unbedingten Schule« der Regelschule vergleichbare Kompetenzen erworben werden können, fordern die Behörden. Dass allerdings die »unbedingte Schule« den Erwerb von Kompetenzen ganz im Sinne des demokratischen Bildungsauftrags sichern könnte, welche die staatliche Regelschule schon angesichts ihrer Voraussetzungen verunmöglicht – etwa Mündigkeit, Selbstbestimmung und Aufklärung –, gehört zu den fast schon bizarren Wendungen des »Widerspruchs von Bildung und Herrschaft«, den der Pädagoge und Bildungstheoretiker Heinz-Joachim Heydorn im Schulsystem ausgemacht hat.
Die »unbedingte Schule« soll eine »demokratische Schule« sein. Gemeint ist damit eine Schule, die »Demokratie« nicht auf Abstimmungsverfahren reduziert, sondern ihren Begriff von Freiheit im Bildungsprozess selbst verankert. Eine Handvoll solcher »demokratischer Schulen« gibt es gegenwärtig im Bundesgebiet, zumeist orientiert am Modell der US-amerikanischen Sudbury Valley School. Es sind Privatschulen, was zunächst nur ihren ökonomischen Status beschreibt, sie sind nicht vom Staat finanziert, sondern von Schulgeld, Vereinsmitgliedsbeiträgen, Spenden oder sonstigen Zuwendungen abhängig.
Gleichwohl gibt der Staat Regeln vor. Freie Schulprojekte müssen nicht nur die Richtlinien der jeweiligen Bildungsministerien einhalten, sondern sich auch an ihren Resultaten messen lassen: also an den Menschen, welche die Schulausbildung an ihnen durchlaufen und abschließen. So wird, wenn sie denn Realität wird, auch die »Unbedingte Schule« wohl irgendwann von der Kritik zur Taktik übergehen müssen. Zum Vergleich gezwungen, müsste sie dann beweisen, dass die Regelschule eben nicht funktioniert und die »unbedingte Schule« besser ist.
Diese Paradoxie lässt sich nicht einfach mit dem Hinweis auf Sachzwänge und Vorgaben auflösen. Die Initiative der »Unbedingten Schule« nimmt sie an entscheidender Stelle in ihr Programm auf: als Hinweis auf den unlösbaren »Widerstreit«, und zwar genau in dem Sinne, wie ihn Jean-Francois Lyotard in seinem gleichnamigen Buch ausgeführt hat.

Das ist nicht der einzige theoretische Exkurs in den Erläuterungen der Initiative. Ivan Illichs und Paolo Freires Kritik, welche die Schule als Mythos voller pädagogischer Fetischismen und Phantasmen enttarnte, wird hier im großen Bogen mit postmoderner und poststrukturalistischer Theorie von Gilles Deleuze und Félix Guattari über Michael Hardt und Antonio Negri bis Paolo Virno und Jacques Rancière aktualisiert: Mit Konzepten wie Ritornell, Falte, Rhizom oder Meute unternimmt die »unbedingte Schule« den Versuch, an das neuhumanistische Bildungsideal Humboldts anzuknüpfen: Bildung als Weltaneignung durch Selbstentfaltung des Menschen, »class, race und gender ebenso wie kulturelle, ethnische oder religiöse Hintergründe« sollen keine Rolle spielen.
Verbunden mit einer materialistischen Gesellschaftskritik hätte die »unbedingte Schule« mehr als nur schulpolitische Brisanz. Es wäre denkbar, dass mit solchen Projekten wie der »unbedingten Schule« eine radikale Praxis auch und gerade in den Bereichen wieder ermöglicht wird, aus denen emanzipatorische Bewegungen seit längerem verschwunden sind: Schule, Familie, Alltagsleben.

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