24.05.2012
Die Diskussion um Frauenhass in der arabischen Welt

Die Verachtung der anderen

Die amerikanisch-ägyptische Kolumnistin Mona Eltahawy hat in einem wütenden Essay auf den Frauenhass in der arabischen Welt aufmerksam gemacht. Das wird dort nicht gern gelesen.

Mit dem arabischen Frühling ist der arabische Exzeptionalismus widerlegt – die Annahme, dass Araber mit der Demokratie Probleme hätten. Die amerikanisch-ägyptische Kolumnistin Mona Eltahawy hat nun jedoch einen weiteren Exzeptionalismus benannt und damit einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. In der Maiausgabe des US-amerikanischen Magazins Foreign Policy schreibt sie über den Frauenhass in der arabischen Welt. »Warum hassen sie uns?«, fragt sie provokant. Damit greift sie eine Formel auf, die zur Zeit des »War on Terror« von George W. Bush geprägt und dann von Noam Chomsky in antiamerikanischer Absicht aufgegriffen und gewendet wurde.

Kein arabisches Land schaffe es unter die ersten 100 Plätze des Global Gender Gap Report, der die Achtung der Frauenrechte und die Fortschritte bei der Gleichstellung weltweit in einem Ranking bewertet. »Arm oder reich, wir alle hassen unsere Frauen«, schreibt Eltahawy. Insbesondere arabische Frauen, viele davon Feministinnen, fühlen sich durch ihre Thesen herausgefordert. Eine Flut von Artikeln kritisiert Eltahawys Aussagen: Sie generalisiere, der Zeitpunkt für die Veröffentlichung des Artikels sei falsch gewählt und Hass das falsche Wort. Die Hauptkritik ist jedoch, dass sie mit der Veröffentlichung in einem US-amerikanischen Magazin und der Illustration – Bilder, die eine nackte Frau zeigen, auf die ein Niqab aufgemalt ist – dem »Orientalismus« Vorschub leiste. Auch in der westlichen Welt gebe es schließlich Frauendiskriminierung.
Eltahawys Essay ist journalistisch, nicht wissenschaftlich geschrieben. Trotzdem hatte sie sich gegen jeden einzelnen der Vorwürfe abgesichert, wenn sie schreibt: »Ja, die Vereinigten Staaten müssen noch einen weiblichen Präsidenten wählen und ja, Frauen werden weiterhin in westlichen Ländern zum Objekt gemacht … Aber lassen Sie uns nicht diskutieren, was die USA machen oder nicht machen. Nennen Sie ein arabisches Land und ich werde eine Litanei von Misshandlungen aufzählen.«
Das tut sie dann auch. Von der Verheiratung zehnjähriger Mädchen im Jemen bis zum Selbstmord einer Marokkanerin, die ihren Vergewaltiger heiraten musste (Jungle World 20/12), berichtet sie von Grausamkeiten aus fast allen arabischen Ländern. Für Ägypten zählt sie unter anderem »Jungfrauentests«, Genitalverstümmelungen und sexuelle Nötigungungen auf und berichtet von Islamisten, die weiblichen Opfern die Schuld an der Tat geben und Genitalverstümmelung empfehlen. Noch düsterer sieht es in Saudi-Arabien aus: Dort wurde das Opfer einer Massenvergewaltigung verurteilt, weil sie zu einem Fremden ins Auto gestiegen war. Frauen würden dort wie Minderjährige behandelt, kritisiert Eltahawy, dabei hätten weit mehr Frauen als Männer einen Universitätsabschluss. Von diesen geringer qualifizierten Männern müssten die Frauen jedoch jeden Aspekt ihres Lebens kontrollieren lassen.

Eltahawys Schlussfolgerungen sind relativ versöhnlich: »Wir müssen aufhören, uns etwas vorzumachen.« An »den Westen« gewandt schreibt sie: »Ihr werdet gesagt bekommen, dass sei unsere Kultur und Religion.« Dies kritisiert sie als Kulturrelativismus. Sie endet mit dem Aufruf, Selbstmorde und Taten einzelner Rebellinnen zum Anlass des Aufbegehrens zu nehmen – wie der Selbstmord des tunesischen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi zum Anlass der arabischen Revolten wurde.
Eltahawy hat ein wütendes Pamphlet geschrieben, das kaum nach Ursachen fragt. Nichts davon ist neu, und man sollte meinen, dass die arabische Frauenbewegung schon Dutzende solcher Pamphlete produziert hätte. Doch das hat sie nicht. Der Aufschrei, den dieser Artikel hervorgerufen hat, ist aus westlicher Perspektive kaum verständlich, aus arabischer war er allerdings zu erwarten. Die freundlichste und zugleich naivste Kritik ist, dass es nicht um Hass gehe. »Mein Bruder, mein Vater, mein Sohn hassen mich doch nicht.« Das schrieben nicht nur viele Leserinnen an Eltahawy. Das sagt auch die saudische Professorin und Dissidentin Madawi al-Rasheed in einem Streitgespräch bei BBC World. Das Private ist hier eindeutig noch nicht politisch. So kritisiert Noura Erakat auf der linken Website Jadaliyya: »Sie schafft einen Krieg zwischen Männern und Frauen, statt das System des Patriarchats anzugreifen.«
Dabei geht es Eltahawy durchaus um ein System. Ihre Kritik geht über das Patriarchat hinaus. Sie nennt es ein System der Misogynie, des Frauenhasses. Wenn sie auch keine Analyse betreibt, so müssen ihre Aussagen doch so verstanden werden, dass die arabische Welt eine Sonderrolle einnimmt. In einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender MSNBC nennt sie dies »den eigentlichen arabischen Exzeptionalismus«.
Wer UN-Berichte liest, dürfte von dieser These wenig überrascht sein. Zahlreiche Berichte zur menschlichen Entwicklung bestätigen, dass Frauendiskriminierung in der arabischen Welt ein erstaunliches Ausmaß hat. Die Lage der Frauen dort ist zwar nicht in allen Bereichen schlechter als zum Beispiel in Indien. Die Verbesserung ihrer Lage geht allerdings viel langsamer voran als überall sonst in der Welt, insbesondere im Vergleich mit anderen Entwicklungsindikatoren. Der für andere Regionen geltende Zusammenhang »Je mehr Bildung, Wohlstand und Gesundheit, umso weniger Frauendiskriminierung« lässt sich zwar auch für arabische Länder feststellen, ist dort jedoch weit geringer ausgeprägt.

Das alles wollen arabische Feministinnen nicht wahrhaben, scheint es. Ihre Abwehr gegen Eltahawy erinnert an die Abgrenzung, die viele arabische Feministinnen in den achtziger und neun­ziger Jahren gegen die ägyptische Schriftstellerin Nawal al-Saadawy übten. Saadawy klagte die Diskriminierung von Frauen ebenso wütend an. Sie verschrieb sich vor allem dem Kampf gegen die Genitalverstümmelung. Dabei hatte sie den gleichen Makel wie Eltahawy: Sie lebte zumindest zeitweise in den USA.
Der Hauptvorwurf gegen Eltahawy ist, dass sie die arabische Frau als das »orientalische Andere« darstelle, »so dass das westliche Publikum klatscht und jubelt«, schreibt Roqayah Chamseddine in dem Blog »The Frustrated Arab«.
Der Philosoph Edward Said hat in seinem Hauptwerk »Orientalism« die negative Konstruktion des Orientalen beschrieben: Der Blick auf den Anderen wird zur Selbstaffirmation. Said hat sich dabei auf die Wissenschaft bezogen, aber die Ausweitung des Begriffs auf andere Bereiche mitgedacht. In einer Weiterführung dieses Konzepts kann man durchaus vermuten, dass die Vorstellung der unterdrückten Orientalin, der Frau im Harem bei Teilen des westlichen männlichen Publikums Lust auslöst und somit der Hinweis auf diese Unterdrückung zugleich etwas Pornographisches haben mag. Erstaunlich bleibt dennoch, dass diese Vermutung zum Hauptargument gegen Eltahawy wird. Man möchte fragen: Was schert es arabische Feministinnen, was das westliche Publikum denkt, wenn Eltahawy doch – und da widerspricht niemand – ein existierendes Problem anspricht?
Selbstkritik war lange ein Tabu in der arabischen Welt. Es gibt kaum einen arabischen Intellektuellen, der darüber nicht lamentiert hätte. Einige, wie der marokkanische Schriftsteller Taha Ben Jelloun oder der syrische Philosoph Sadiq al-Azm, haben darin einen Grund für den jahrzehntelangen Stillstand der arabischen Länder ausgemacht. Al-Azm räumte kürzlich in einem Interview mit dem Tagespiegel ein, die Fähigkeit zur Selbstkritik sei heute ausgeprägter. Tatsächlich hat die arabische Jugend, die die Revolten im vergangenen Jahr initiierte, das Tabu durchbrochen. »Ägypten erlebt in jeder Hinsicht eine der dunkelsten Epochen seiner Geschichte«, schrieb Wael Ghonim auf der Website »Wir alle sind Khaled Said« vor dem 25. Januar 2011 und zählte auf, in welchen Punkten Ägypten weit schlechter dasteht als andere Länder: Selbstmorde, Armut, Korruption, Arbeitslosigkeit, Säuglingssterblichkeit. Doch auch Ghonim überlegte lange, ob er das Angebot eines im Ausland lebenden Aktivisten, die Seite ins Englische zu übersetzen, annehmen sollte. Sein erster Reflex war: Ich darf mein Volk nicht vor anderen kritisieren. Derartige Kritik wurde als Nestbeschmutzung betrachtet. Dank der ara­bischen Revolten wurde dieses Tabu in vielen Bereichen überwunden. In Bezug auf Frauenrechte scheint es aber noch zu gelten.
Der Reflex sollte insbesondere Deutschen nicht fremd sein. »Nestbeschmutzer« hat zumindest in den meisten europäischen Sprachen keine Entsprechung – ins Englische übersetzen manche den Begriff mit whistle-blower. Die kulturelle Bedeutungsverschiebung könnte nicht deutlicher sein: Was für die einen Verrat bedeutet, ist für andere eine Heldentat.