»Die Linke« nach dem Parteitag

In der Zeitschleife

Der Machtkampf in der Linkspartei ist noch lange nicht entschieden. Der Parteitag in Göttingen war fast eine Wiederholung des Parteitags in Gera 2002. Mit einer Ausnahme: Katja Kipping. Was ist von ihr zu erwarten?
Von

Auf dem Heimweg nach Brandenburg twitterte eine ratlose »Linken«-Delegierte, die dem Reformerflügel nahesteht: »Ich weiß nicht so richtig, was ich dazu jetzt im Dorf erklären soll.« So wie sie grübelten am Sonntagabend sicher viele Delegierte, welche zentrale Botschaft der Bericht an ihre jeweilige Basisgruppe haben müsse. War die Wahl des neuen Bundesvorstands für die Reformer nun ein totales Desaster oder ist es die Chance für einen Neubeginn jenseits alter Konflikt­linien? Der unterlegene Dietmar Bartsch gab sich, wie die meisten anderen Reformer auch, versöhnlich: »Nach all dem, was abgelaufen ist, war das kein schlechtes Ergebnis.«
Dabei müsste doch gerade Bartsch die einzige zuverlässige Regel für Analysen des Zustands der Linkspartei kennen: Wenn am Ende Diether Dehm lacht, dann muss man das allerschlimmste annehmen. Hätte man, wie es bei Fußballübertragungen zuweilen mit einzelnen Spielern oder den Trainern gemacht wird, eine Fernsehkamera während des Parteitages nur auf den ehemaligen SPD-Funktionär, Liedermacher, Musikproduzenten, Millionär und Stasi-Zuträger Dehm gerichtet, man wüsste über den Zustand der Partei bestens Bescheid. Schon am Anfang lief er wie ein mit Koks und Testosteron aufgepumptes Aufziehmännchen durch die Halle, und am Ende waren ihm Triumph und Genugtuung derart ins Gesicht geschrieben, dass man sich vor dem maskenhaften Anblick fürchten konnte.

Schon einmal hat sich Dehm bei einem Parteitag derart diebisch gefreut. Es war in Gera 2002, als die Anti-Refomer zum ersten Mal einen Machtkampf für sich entschieden. Ein taktisches Bündnis aus Betonkopfkommunisten, SPD- und K-Gruppen-sozialisierten Westlinken und Teilen einer DDR-nostalgischen Ostbasis wählte damals Dehm zum stellvertretenden Parteivorsitzenden hinter der marionettenhaft agierenden Gabi Zimmer. Die Vertreterinnen und Vertreter des Reformerlagers flogen allesamt aus den wichtigsten Ämtern. Der traditionslinke Flügel hatte sich durchgesetzt und feierte sich frenetisch. Die Reformer, zu denen auch Gregor Gysi zählte, waren geschockt.
Es ist wichtig, auf dieses Ereignis zu verweisen, nicht nur, weil sich nach jenem Parteitag das »Netzwerk Reformlinke« gründete, aus dem später das »Forum demokratischer Sozialismus« hervorging, und auf der anderen Seite eine Strömung namens »Sozialistischer Dialog/Geraer Dialog« entstand, die sich explizit dem damaligen »Kurswechsel« verschrieb. Der Bruch in der Partei wurde in Gera manifest.
Die Geschichte ist aber auch aus einem anderen Grund wichtig, denn sie spielt in der PDS, lange vor der Fusion mit der WASG, ja lange vor deren Gründung. Oskar Lafontaine war 2002 noch Mitglied der SPD. Dies zeigt, dass der harte und unerbittliche Machtkampf nicht allein einer zwischen Ost und West ist, und vor allem, dass er nicht mit der Fusion von WASG und Linkspartei begründet wurde und man ihn nicht allein Lafontaine anlasten kann, auch wenn der später alles dafür tat, ihn zu befeuern.
Tatsächlich erwies sich der Triumph von Gera für den traditionslinken Flügel schnell als Pyrrhussieg. Nach nur acht Monaten voller Chaos, Intrigen und parteiinterner Blockaden warf die Vorsitzende Zimmer entnervt das Handtuch. Der im Oktober in Gera gewählte Bundesvorstand habe weder Parteireformen noch den Kampf gegen Sozialabbau in Angriff genommen, gab sie zu, er sei »politisch handlungsunfähig«.
Auf einem Sonderparteitag wurden Dehm und der ebenso glücklos agierende Bundesgeschäftsführer, der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Uwe Hiksch, abgewählt. Lothar Bisky wurde wieder Parteivorsitzender, und zu seinen Stellvertretern wählten dieselben Delegierten, die noch acht Monate zuvor ihre Hoffnungen auf Dehm & Co. gesetzt hatten, nunmehr enttäuscht allesamt Vertreter des Reformerflügels. Es ist die Demütigung von damals, die Dehm nun den Parteitag in Göttingen als Genugtuung, vielleicht auch als späte Vergeltung erscheinen lässt, da Bartsch als der Favorit von Gregor Gysi und Lothar Bisky erneut keine Mehrheit fand. »Ihr habt den Krieg verloren«, sangen einige Delegierte verächtlich, als verkündet wurde, dass nicht Bartsch, sondern Bernd Riexinger zum Vorsitzenden gewählt worden war.

Nach der Fusion mit der WASG im Jahr 2007 haben Dehm, Sahra Wagenkecht, Wolfgang Gehrcke und die anderen, die seit Gera den Anti-Refomerflügel bilden, viele neue Mitstreiter gefunden, sowohl in kleinen sektiererischen Gruppen wie beispielsweise der trotzkistischen Organisation Linksruck, als auch in der spießig-proletarischen Gewerkschaftslinken um Klaus Ernst. Aber letztlich sind die »Linken« immer noch in erster Linie im Osten verankert, dort sind sie, wie Gysi am Samstag sagte, eine Volkspartei, im Westen eine Fünf-Prozent-Klientelpartei.
Hätte es nicht eine besondere Vereinbarung gegeben, dass die Stimmen der West-Delegierten mehr zählen als die der Ostler, wäre die Wahl am Samstag vermutlich zugunsten von Bartsch ausgegangen. Die Regelung wird in den nächsten Jahren auslaufen. Vermutlich haben die Traditionslinken erkannt, dass dies die letzte Chance war, den Machtkampf zu ihren Gunsten zu entscheiden. Nicht umsonst hatten sie vehement gegen einen von Bartsch geforderten Mitgliederentscheid über den Parteivorsitz gekämpft. Den hätte Bartsch locker gewonnen. Die nun gefällte Entscheidung über die Führungsspitze wirft daher auch ein schlechtes Licht auf den Zustand der innerparteilichen Demokratie.
Gysi hatte lange die Rolle des Zentristen, des Vermittlers zwischen Bartsch und Lafontaine, eingenommen. Vorübergehend hatte er sich eindeutig hinter Lafontaine gestellt und seinen alten Wegbegleiter Bartsch fallen gelassen. Am Samstag brach er jedoch sichtlich genervt mit dieser Rolle, stellte sich hinter Bartsch und kritisierte scharf dessen kampagnenartige Diffamierung durch den Lafontaine-Flügel. Bewusst sprach er von einer drohenden Spaltung. Gysis eindrucksvollen Auftritt darf man so deuten, dass er bei der nächsten, womöglich finalen Eskalation eindeutig Position beziehen würde, und zwar auf Seiten derer, die die PDS aufgebaut und auch nach Gera wieder auf die Spur gebracht haben. Darauf verwies er, als er in seiner Rede die Namen jenes Männerbündnisses aufzählte, welches 1994 mit einem Hungerstreik gegen den Treuhand-Angriff auf die Partei gekämpft hatte und nach Gera zur Krisensitzung in Gysis Wohnung zusammengekommen war, um zu beraten, ob und wie es weitergehen könne. Und da war neben ihm, Bisky und André Brie eben auch Dietmar Bartsch dabei.

Doch so viel Gera in Göttingen stecken mag, die Lage ist dennoch eine völlig andere. Nicht nur, weil mit dem Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn und dem Bundesschatzmeister Raju Sharma auch ein paar Reformer wichtige Ämter erhielten. Und nicht nur, weil Diether Dehm inzwischen vom Lafontaine-Spezi Ulrich Maurer als oberster Strippenzieher im Intrigantenstadl abgelöst wurde, sondern vor allem natürlich wegen Katja Kipping.
Ihr Co-Vorsitzender Bernd Riexinger, der unbekannte Verdi-Sekretär aus Baden-Württemberg, der kein parlamentarisches Mandat hat und einem der erfolglosesten Landesverbände der Partei vorsitzt, ist – bisher zumindest – ganz offensichtlich nichts als eine Handpuppe von Lafontaine und Maurer. In seiner Bewerbungsrede verlor er kaum eine Silbe über Themen, die jenseits seines gewerkschaftlichen Arbeiterkampf-Horizonts liegen. Ob er über diesen Horizont überhaupt je geblickt hat, ob er andere als soziale Themen beherrscht, und ob er gegebenenfalls dabei linke Ansichten vertritt, weiß man bis dato nicht, und auch auf seiner Homepage findet sich absolut nichts, was Rückschlüsse darauf zulassen würde, da ist nichts als gerührter Gewerkschafterquark.
Das genaue Gegenteil zu ihm ist Katja Kipping. Die junge Dresdnerin war seit dem Sonderparteitag 2003 stellvertretende Parteivorsitzende und ist Mitbegründerin der sich nicht als Strömung verstehenden Strömung »Emanzipatorische Linke«. Außerdem hat sie die undogmatische Zeitschrift Prager Frühling mitgegründet. Kipping steht für all das, was sowohl in der alten Ostbasis als auch bei West-Gewerkschaftern niemanden wirklich interessiert: Feminismus, bedingungsloses Grundeinkommen, antiautoritäre Politik. Sie hat sich für Drogenlegalisierung eingesetzt, engagiert sich gegen Hartz-IV-Sanktionen, gegen Rassismus und hat sich explizit gegen Antizionismus in der Partei stark gemacht. Obwohl sie sich durchaus für soziale Fragen engagiert, liegt sie völlig quer zu dem von der großen Mehrheit der Partei propagierten Arbeitsfetisch.
Man kann sagen, dass mit Katja Kipping tatsächlich – und erstmals – eine emanzipatorische Linke an der Spitze der »Linken« steht, oder zugespitzt, aus antiautoritärer Perspektive formuliert, auch: erstmals eine Linke.
Das sehen die dem dumpfen Klassenkampf verhafteten Traditionalisten der Partei, die sich als »linker Flügel« gerieren, freilich ganz anders. Sie zählen Kipping zu den Reformern, weshalb sie es nicht leicht haben wird, sich bei ihnen Respekt zu verschaffen. Dasselbe gilt aber auch für die Reformerseite, die das Taktieren von Kipping und Katharina Schwabedissen vor der Wahl mit dafür verantwortlich machen, dass am Ende Riexinger die notwendige Mehrheit erhielt. Nun warten viele in der Partei darauf, dass sich Kipping deutlicher positioniert.
Das Geheimnis ihres jetzigen Erfolgs war, dass sie sich wie andere aus ihrem Kreis auch aus den meisten parteiinternen Konflikten herausgehalten hat. In der verfahrenen Situation der Partei vor dem Parteitag bot sie somit einen Ausweg, den sogenannten Dritten Weg, den sie und Schwabedissen beworben hatten, der aber in erster Linie als Stilfrage daherkam. Die beiden warben für eine Partei, in der Politik Spaß mache und bei der man nach dem Parteitag tanzen könne. Inhaltlich äußerten sie sich kaum. Diesmal konnten sie der verkorksten Partei gerade damit etwas anbieten, doch künftig wird das nicht mehr genügen. Kipping wird inhaltlich deutlich Position beziehen müssen und es dann auch nicht mehr allen recht machen können.

Mehr Positionierung tut auch aus emanzipatorischer Sicht not. Dass sich Kipping in ihrer Bewerbungsrede positiv auf den Ökofaschisten Rudolf Bahro bezog, der explizit ein Gegner der Moderne war, und dass sie auf der anderen Seite ein Institut mitbegründete, das sich »Institut für Solidarische Moderne« nennt und rot-rot-grüne Koalitionen vorbereiten soll, scheint ein Widerspruch zu sein. Es sei denn, es wäre kein Zufall, dass der Ökorechte Franz Alt Kuratoriumssprecher und Gründungsmitglied jenes Instituts ist. Angesichts der bisherigen Arbeit des Instituts darf zu dessen Gunsten angenommen werden, dass da einfach eine Portion Problembewusstsein fehlt, aber solche Dinge sind es, die sich eine Parteivorsitzende nicht leisten kann.
Spannend wird in den nächsten Monaten vor allem, welchen Einfluss die beiden Vorsitzenden in der Partei haben werden. Kipping fehlt für ihre libertären Ansichten die Basis, und Riexinger wird selbst von denen, die ihn gewählt haben, nicht ernst genommen. Er ist für sie der Ersatz für Klaus Ernst, welcher als Vorsitzender wiederum nur der Pressesprecher von Oskar Lafontaine war. Immerhin: Mit Katja Kipping hat nun erstmals seit dem Ende der »AG Junge GenossInnen« in den Neunzigern eine politische Strömung Einfluss in der Partei, die zumindest theoretisch für einen emanzipatorischen, antinationalen, nicht antiimperialistischen und vor allem antiautoritären Anspruch steht. Ob sie diesen Einfluss nutzen kann, ist fraglich. Denn dazu wird sich Kipping nun vor allem gegen Riexinger, Wagenknecht und Co. durchsetzen müssen. Und: Noch lacht Diether Dehm – kein gutes Zeichen. Möglich, dass in acht Monaten ein Sonderparteitag Lothar Bisky zum Vorsitzenden macht, oder diesmal doch Dietmar Bartsch; der Richtungsstreit in der Partei ist jedenfalls noch lange nicht zu Ende.