Einführung in die Fußballtheorie. Teil 1

Elfmeterphysik

Zur Einführung in die schönste Hauptsache der Welt, Teil 1.

Die Sprache wurde den Menschen gegeben, sich über Fußball zu verständigen. In diesem Spiel wirkt und webt sich alles fort, was wir schön, gut und wahr nennen. Das Nachdenken über Fußball macht uns zu besseren und weiseren Menschen. Wer den Fußball liebt, kann – Clemens Tönnies einmal ausgenommen – kein schlechter Mensch sein.
Im vollen Ernst der Überlegung stellt sich die Frage, wie das Fußballspiel gesellschaftlich zu verorten ist. Der Begriff des Sports reicht nicht hin. Er erklärt, warum Leute sich körperlich betätigen, nicht, warum sie anderen dabei zusehen. Interesse an einem Sport tritt ausschließlich im Zusammenhang mit Wettkämpfen auf, und der Wettkampf ist so alt wie die Gesellschaft selbst. Die gesamte griechische Antike war vom Agon durchdrungen; nicht allein die Olympischen Spiele, bereits die griechische Sprache arbeitet in ihrem regulären Partikel-Gebrauch viel stärker mit Entgegensetzungen als jede andere indogermanische Sprache. Der alte Grieche reiht seine Gedanken wie ein Kampfrichter, der nacheinander die Kontrahenten in die Arena ruft. Was sich natürlich auch in der Rhetorik zeigte, und selbst die Ausübung und Herstellung der Kunst, von den Sängern bis zum Attischen Theater, fand im Zusammenhang von Wettkämpfen statt. Kunst und Wettkampf können zwar ohne einander, aber jene eigentümliche Vermischung zeigt, dass sie einander nicht ausschließen, und der nachhaltige Erfolg der griechischen Kunst legt sogar den Verdacht nahe, dass Wettkampf der Kunst förderlich sein kann.
Kann auch die Kunst dem Wettkampf förderlich sein? Wie viel Kunst steckt im Fußball, oder anders gefragt: Besteht die Faszination am Fußball wirklich allein darin, dass er als Agon ausgetragen wird? Es muss doch einen Grund geben, weshalb Fußball jene gigantische Begeisterung in der weiten Welt hervorruft und nicht etwa Gewichtheben oder Tiefsee-Schach.
Dem Fußball fehlt eine Eigenschaft, die für Kunst beinahe notwendig ist: Er bildet nicht ab. Wenn Macbeth auf der Bühne von seiner Machtlust zum Mord getrieben wird, bewegt er sich in einem Setting, dessen Spiel uns zugleich über die Zeiten von Stoff und Autor Auskunft gibt. Wenn Rubens die drei Grazien malt, bildet er eine mythologische Vergangenheit ab, die auf ihre Weise ebenfalls historische Wirklichkeit bezeichnet. Im Fußball erfahren wir nichts über die Welt, weder über die vergangene noch über die gegenwärtige und erst recht nichts über die künftige. Aber das gilt auch für die Musik. Der wie die bedeuten sich selbst und sonst gar nichts.
Das Fußballspiel erzeugt anschauliche Schönheit. Die Weise, in der ein Spieler einen Freistoß tritt, sich im Dribbling gegen eine Überzahl durchsetzt, zum Kopfball hochsteigt, den vertikalen Pass spielt, die Flanke setzt oder per Distanzschuss den Abschluss sucht, erfreut das Auge, das – warum auch immer – gern runde Gegenstände sich auf ungewöhnliche Weise bewegen sieht. Ich wage die Überlegung, dass Fußball zu jener merkwürdigen Gruppe der sinnlosen Künste gehört, zu denen auch die Kochkunst und die Architektur zählen. Sinnlos sind sie nicht, weil sie keine Ideen enthielten. Sinnlos sind sie, weil die Ausübung dieser Tätigkeit zu anderen Zwecken erfolgt als zu ästhetischen.
Das Ästhetische nimmt man in ihnen so mit, es ist nicht notwendig. Ein Haus steht auch ohne schmuckvolle Fassade, ein Mahl sättigt auch ungewürzt, und ein Fußballspiel lässt sich auch ohne Kunststücke am Ball erledigen. Das Spiel hat den Zweck, das Runde einmal öfter ins Eckige befördert zu haben als der Gegner. Was ein Ballkünstler darüber hinaus veranstaltet, ist streng genommen Tinnef. Und doch liegt in dieser bloß akzidentiellen Eigenschaft der Grund für den Erfolg: Von allen Sportarten, bei denen der Agon sinnlich fassbar ist, ist Fußball diejenige, die den höchsten Grad an Schönheit erzeugt. Das Fußballspiel muss nicht Kunst sein, aber wäre es das nicht hin und wieder, bestünde kein Grund, gelegentlich über es nachzudenken.
Was jede Kunstform tut: Sie drückt menschliche Haltungen aus. Auch die Weise, in der ein Trainer seine Mannschaft spielen lässt, drückt eine bestimmte Haltung aus. Vier Haltungen sind es, die unter den Menschen gleichermaßen verteilt sind: Unvermögen, Unwillen, Genialität und Bösartigkeit. Diesen entsprechen im Fußball vier Spielweisen, die zusammen eine Art Panorama der Möglichkeiten bilden. Zur Subjektivität meines Verfahrens gehört übrigens, dass es von seiner Subjektivität nichts wissen will.
Protestantischer Fußball

Mannschaften: Schalke 04, Manchester United, Chelsea; Nationalmannschaften von England, Deutschland; alle Mannschaften, die Felix Magath trainiert.

Im Mittelpunkt dieser Spielweise stehen Ausdauer, Kampf und Kraft. Aber nicht nur technisch, auch taktisch ist der Protestantische Fußball unterbelichtet. In der Defensive kennt er zwei Methoden: Manndeckung und Blutgrätsche, bevorzugt zugleich. Selbst die Viererkette, wenn sie, wie in letzter Zeit, in diesem System gespielt wird, erinnert irgendwie an die Manndeckung.
Der Protestantische Fußball ist gleichsam die Urform des Fußballspiels. Er entstand auf der Insel, wo der Protestantismus seine absurdeste Form erreichte: den Puritanismus. Der englische Fußball ist daher nicht nur geprägt vom protestantischen Arbeitsethos, sondern von einer starken Neigung zum Unvergnüglichen, zur Lustfeindlichkeit und der Ablehnung alles Besonderen. Man lebt, um zu arbeiten, nicht umgekehrt.
Zugleich ist dieses System das, was eine Mannschaft, deren Mitglieder unterhalb eines bestimmten Niveaus bleiben, ausschließlich spielen kann. Das protestantische System ist also zugleich die primitive Urform des Fußballspiels wie auch der Inbegriff des unterklassigen und amateurhaften Fußballs.
Der klassische Spieler dieses Systems ist ein Allrounder, er muss alle Schwächen in sich vereinen: schlechte Ballbeherrschung, schlechte Schusstechnik, geringe Spielintelligenz und taktisches Unverständnis. Die einzige Stärke, die er haben muss, ist seine Physis, nebst einer gewissen Hemmungslosigkeit, wenn es darum geht, schnelleren und begabteren Spielern die Beine zu brechen. Der Spieler dieses Systems ist daher eher ein Leichtathlet als ein Fußballer. Und er muss einfallslos genug sein, auch das 15. Mal innerhalb eines Spiels aus dem Halbfeld eine hohe Flanke zu schlagen, während in der Mitte ein klassischer Stoßstürmer in die Luft steigt, der den Ball in seinem Leben weitaus öfter mit dem Kopf als mit dem Fuß berührt hat. Die protestantische Spielweise ist so geistlos wie unansehnlich, aber anders als der später noch zu behandelnde unmenschliche Fußball ist sie rastlos und ehrlich; etwas anderes wäre vom Protestantismus auch nicht zu erwarten.
So natürlich auch von seinem Derivat, dem Puritanismus, der ja gleichsam Ausdruck des Bürgertums in seiner reinen Bestimmtheit ist: die Welt und ihre Werte reduziert auf das Klingeln der Registrierkasse und des Weckers, der um fünf Uhr morgens zum Aufstehen in einen weiteren von Blut und Schweiß getränkten Arbeitstag ruft. Frauen kommen in der puritanischen Welt übrigens nicht vor. Folglich trifft man sie auch nicht in den Stadien, wo der Protestantische Fußball gespielt wird. Genauso wie die Häuserfassaden und all die anderen Kunsterzeugnisse mit Beginn der reinen Bürgergesellschaft immer kunst- und trostloser wurden, ist der Protestantische Fußball ohne jegliche Kunst. Da das Ästhetische aber am Fußball nur akzidentiell ist, ist dieser Mangel kein Grund, den Protestantischen Fußball aus der Gattung des Fußballspiels auszuschließen.
Obgleich wir nichts lieber täten.

Die restlichen drei Spielweisen werden in der nächsten Ausgabe beschrieben.