Die chinesische Familienpolitik in der Kritik

Baby auf Antrag

Die Kritik an der Ein-Kind-Politik in China wächst. Allerdings geht es dabei weniger um das Selbstbestimmungsrecht der Frau als um wirtschaftliche und nationale Interessen.

Die 23jährige Feng Jianmei liegt nach einer Zwangsabtreibung neben ihrem toten Fötus im Krankenhausbett. Dieses Foto, das vor einigen Wochen über soziale Medien in China verbreitet wurde, hat auf der ganzen Welt Empörung ausgelöst. Feng wurde im siebten Monat von örtlichen Kadern der Geburtenplanung in der Provinz Shaanxi zur Abtreibung gezwungen, weil ihre Familie 40 000 Yuan (umgerechnet ca. 5 100 Euro) als Strafgebühr für ein zweites Kind nicht bezahlen konnte. Wohl auch aufgrund der großen internationalen Aufmerksamkeit verurteilten die chinesischen Staatsmedien die Zwangsabtreibung in Shaanxi als illegal. Die Regierung entließ einige der verantwortlichen Funktionäre und setzte sich wieder einmal medienwirksam als Vertreterin des Gesetzes und der einfachen Leute in Szene.
Am 11. Juli meldete Associated Press, dass Fengs Familie eine Entschädigungszahlung von über 70 000 Yuan (ca. 9 000 Euro) erhalten soll. Nach dem Gesetz zur Geburtenplanung von 2002 sind Zwangsabtreibung und Zwangssterilisation verboten. Eltern brauchen aber eine behördliche Erlaubnis, um ein Kind zu bekommen. Bei Zuwiderhandlungen sollen die Behörden hohe Geldstrafen gemäß dem Einkommen der Familie festlegen. Lokale Kader stehen unter Druck, »schwarze Geburten« zu verhindern und die Planvorgaben zu erfüllen. Die Regierung bezeichnet die Geburtenplanung als »grundlegende Maßnahme des Staates«. Damit ist ihre Umsetzung besonders wichtig für die Evaluierung der Leistungen von Kadern. Keinen Zwang anzuwenden, erscheint vielen von ihnen als Order zweiten Rangs, zumal die betroffenen Frauen kaum juristische Möglichkeiten haben, sich zur Wehr zu setzen.

Die Affäre um Feng heizt auch die Debatte um den Sinn der Ein-Kind-Politik an. Vorige Woche schrieben renommierte Wissenschaftler des staatlichen Think Tanks »Zentrum für Forschungsentwicklung« einen offenen Brief, in dem sie die Position vertraten, dass die Ein-Kind-Politik den Menschenrechten widerspreche. Die Forscher warnten aber auch davor, dass die rasant voranschreitende Überalterung der Gesellschaft in Folge der Geburtenplanung zu einem Mangel an jungen Arbeitskräften führen werde. Auch wirtschaftsnahe Tageszeitungen wie die Financial Times bezeichnen die demographische Entwicklung als große Gefahr für das Wachstum des Landes. Ökonomen befürchten, dass China alt wird, bevor es reich werden könnte, weil die Masse an billigen Arbeitskräften für die Weltmarktfabriken in den kommenden zehn Jahren schrumpfen wird. China verliere dann seinen Wettbewerbsvorteil. Schon jetzt fordern einige chinesische Ökonomen, das Renteneintrittsalter schrittweise zu erhöhen, um Arbeitskräfte länger nutzen zu können. Im öffentlichen Dienst und in Staatsbetrieben gehen Frauen bisher mit 50 bis 55 Jahren und Männer mit 60 Jahren in Rente.

Die KPCh rechtfertigt die 1980 eingeführte Ein-Kind-Politik bisher mit wirtschaftlichen und demographischen Argumenten. In China lebt fast ein Viertel der Weltbevölkerung, aber nur sieben Prozent des weltweiten Ackerlandes sind dort verfügbar. Das enorme Wirtschaftswachstum seit 1978 sei nur möglich gewesen, da dank der Einführung der Ein-Kind-Politik 400 Millionen Kinder weniger zur Welt gekommen seien. Die Geburtenrate pro Frau wurde von 2,2 (1980) auf 1,6 (2009) gesenkt. Der offiziellen Lesart zufolge war in der Mao-Ära (1949–1976) das wirtschaftliche Wachstum durch die Bevölkerungsexplosion konterkariert worden. Die Zahl der Chinesinnen und Chinesen stieg damals von 541 Millionen (1949) auf 937 Millionen (1976). Bereits Anfang der siebziger Jahre ließ Mao deshalb eine erste Geburtenplanung einführen, die nicht auf dem Zwang zur Ein-Kind-Familie basierte, sondern eine späte Heirat sowie größere zeitliche Abstände zwischen den Geburten propagierte. Verhütungsmittel wie die Spirale wurden auch auf Dörfern verbreitet. In der Folge sank die Geburtenrate von 5,7 Kindern pro Frau (1970) auf 2,7 (1979). Dass die Bevölkerungszahl trotzdem immens stieg, lag an der schnell wachsenden Lebenserwartung, zu der auch die Verringerung der Säuglingssterblichkeit beitrug.
Erst mit dem Beginn der Reformpolitik 1979 führte die KPCh eine äußerst repressive Familienpolitik ein. Die neue, besonders wissenschaftsgläubige Parteiführung ließ sich von Demographen beraten, die mit Hilfe neuester Computerprogramme errechneten, dass eine drastische Senkung der Geburtenrate unbedingt nötig sei. Zur gleichen Zeit zerfiel mit der Auflösung der Volkskommunen Anfang der achtziger Jahre das ländliche Gesundheitssystem. Ältere Bäuerinnen und Bauern wurden dadurch noch mehr von der Versorgung durch ihre Kinder abhängig. Allerdings verlassen im ländlichen China Frauen traditionell mit der Heirat ihre Familie und wechseln in die des Ehemanns. Deshalb bevorzugen viele Eltern immer noch Söhne. Erst seit zehn Jahren bemüht sich die chinesische Regierung wieder, kollektive Gesundheitsversorgung und Renten der breiten Bevölkerung zugänglich zu machen. Dadurch sollen auch die Einzelkinder bei der Versorgung ihrer Eltern entlastet werden.

Als weiteres großes Problem neben der Überalterung der Gesellschaft gilt der »Männerüberschuss«. Obwohl die Feststellung des Geschlechts durch Ultraschalluntersuchung verboten ist, werden jedes Jahr Tausende weiblicher Föten aufgrund ihres Geschlechts abgetrieben. Nach der Volkszählung von 2010 übersteigt die Zahl der Männer die der Frauen um 30 Millionen. In einem Kommentar warnte die Volkszeitung Ende Juni, dass dieses Ungleichgewicht zu gesellschaftlicher Instabilität führe. In China gelten junge Männer, die keine Familie gründen können, traditionell als gefährlich, weil sie sich häufig Banditenbanden oder revolutionären Bewegungen anschlössen. Die Regierung sieht zudem den organisierten Handel mit Babies oder die Entführung von Frauen zur Zwangsarbeit als Folgeprobleme des »Männerüberschusses«.
In den vergangenen Jahren gab es bei Teilen der ländlichen Bevölkerung ein Umdenken in der Geschlechterfrage. Viele Bauerntöchter arbeiten heute in den Städten und schicken den Eltern Geld. Damit ist eine Tochter nicht mehr mit finanziellem Verlust verbunden. Die Kosten, für den Sohn eine Braut zu finden, sind jedoch enorm gestiegen, da Frauen eben wegen des »Männerüberschusses« höhere materielle Ansprüche stellen können als früher. In den Städten sind Kinder ohnehin mit hohen Ausgaben für die Ausbildung verbunden. Die Geburtenrate in Shanghai und Peking soll bereits unter einem Kind pro Frau liegen, niedriger als in Deutschland. In urbanen Gesellschaften sinkt die Geburtenrate auch ohne Zwangsmaßnahmen.
»Ethnische Minderheiten« wie beispielsweise Tibeterinnen und Tibeter sind von der Ein-Kind-Politik ausgenommen und dürfen in ländlichen Gebieten bis zu vier Kinder bekommen. Ein zweites Kind dürfen auch Eltern aus der Mehrheit der Han-Chinesen bekommen, die selbst Einzelkinder sind. Nach einer Scheidung und erneuter Heirat ist ein zweites Kind erlaubt, wenn ein Ehepartner keinen Nachwuchs hatte oder die Kinder nicht in der neuen Familie leben. In einigen ländlichen Gebieten wird eine Ausnahme gemacht, wenn das erste Kind ein Mädchen war. Weitere Ausnahmen soll es bisher nicht geben.
Dass die Parteiführung grundsätzlich an der Ein-Kind-Politik festhält, ist auch Resultat ihres Weltbildes. Die Versorgung der Bevölkerung, besonders alter Menschen, wird nicht als Frage von Verteilung und Besitzverhältnissen betrachtet, sondern in erster Linie als demographisches Problem. Viele Chinesinnen und Chinesen haben diese neoliberale Doktrin übernommen. Gibt es im Alltag ein Problem, hört man häufig: »Da kann man nichts machen. Es gibt zu viele Menschen.«