Unterwegs mit dem antirassistischen Projekt »Boats 4 People«

Solidarität auf hoher See

Unterwegs mit den Aktivistinnen und Aktivisten des Projekts »Boats 4 People« auf dem Mittelmeer. Ein Reisebericht.

5. Juli, ein Klosterhof in Palermo
»Ihr dürft nicht sagen, dass sie tot sind, niemals«, sagt Rabih Bouallegue. Denn noch immer hätten die Mütter Hoffnung. »Und ihr dürft nie sagen, dass Ihr ihnen helfen könnt.« Der junge Blogger aus Tunesien trägt ein blaues T-Shirt, seine Haare sind abrasiert, er sitzt bei drückender Hitze auf einem Plastikstuhl im Innenhof der Migrantenmission im Kloster Santa Chiara von Palermo. Bouallegue hatte einen Freund, Hatim Bukhris, ein junger Automechaniker aus einem Vorort von Tunis. Erst war er gegen Ben Ali auf die Straße gegangen, die neu erkämpfte Freiheit hatte er dann genutzt, um nach Italien aufzubrechen. Am 13. März 2011 bestieg er ein Schlauchboot, in Italien kam er niemals an. Seitdem hat Bouallegue eine Aufgabe: Er unterstützt die Angehörigen der sogenannten Harraga, der Bootsflüchlinge aus Tunesien, die auf dem Weg nach Europa verschwunden sind.
Mit ihnen werden sich die rund 50 Mitglieder der Initiative »Boats 4 People« (B4P) treffen, die heute Bouallegue zuhören. Aus Italien, Deutschland, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Mali, Niger und Tunesien sind sie zusammengekommen, um gegen die »Festung Europa« zu protestieren. »Die EU hatte auf die arabischen Aufstände vor allem eine Antwort: Abschottung«, sagt Christoph Arndt aus Berlin, der B4P mitorganisiert hat. Eilig seien neue Grenzschutzabkommen mit den neuen Regierungen abgeschlossen worden.
Eigentlich wollte man schon letztes Jahr losfahren, in den Monaten nach dem Aufstand in Tunesien, als Zehntausende aus Nordafrika übersetzten und Italien den Notstand ausrief, weil die Internierungslager überquollen. Frontex verschärfte damals die Überwachung des Mittelmeers und der Umgang der EU mit den Papierlosen löste eine Krise aus. In dieser Zeit fassten antirassistische Gruppen aus Italien, Frankreich und Deutschland den Plan zu einer Intervention, wie es sie noch nicht gegeben hatte: Mit einer ganzen Flotte wollten sie losfahren, Schiffbrüchige aufspüren und die Frontex-Einheiten beobachten. Das hätte Hunderttausende Euro gekostet. Die Zusagen für die Finanzierung kamen spärlich und am Ende reichte das Geld nur, um ein einziges Boot zu chartern: Die »Oloferne«, ein Motorsegler mit acht Plätzen, der Ende Juni im italienischen Cecina in See stach und jetzt im Hafen von Palermo ankert. Parallel zur Fahrt der »Oloferne« nach Nordafrika sollen Aktionen gegen das massenhafte Sterben an Europas Südflanke stattfinden. Es ist eine Art transnationales No-Border-Camp und auf dem Programm steht, sich mit den Familien der Harraga zu solidarisieren. Bouallegue ist gekommen, um die Aktivistinnen und Aktivisten darauf vorzubereiten. »Macht eure Interviews, macht eure Dokumentationen«, sagt er, »aber seid vorsichtig: Ihr kommt aus Europa, sie denken, dass ihr herausfinden könnt, was mit ihren Kinder geschehen ist. Das weckt Hoffnungen, die ihr dann bitter enttäuschen müsst. Ich habe den gleichen Fehler gemacht.«

7. Juli, zwischen Sizilien und Tunesien
Lange wurde darüber diskutiert, was zu tun sei, wenn der Kapitän die Küstenwache ruft. Würde er eine Demonstration gegen das europäische Grenzregime, an Bord einer Fähre zwischen Italien und Nordafrika, mitten im Einsatzgebiet von Frontex dulden? Am Morgen haben sich die Aktivistinnen und Aktivisten auf die »Zeus Palace« eingeschifft, zwischen Hunderten Tunesierinnen und Tunesiern, die in Europa leben und den Sommer in ihrer Heimat verbringen wollen. Im Gepäck haben die Aktivistinnen und Aktivisten eine mobile Lautsprecheranlage sowie Flugblätter und Transparente auf Französisch und Arabisch. Es ist wohl die erste Aktion dieser Art, die daran erinnert, dass im vergangenen Jahr fast 2 000 Menschen ertrunken sind, als sie ohne Visum nach Europa gelangen wollten. »Die Fähren bewegen sich zwischen den Welten, ebenso wie viele der Menschen, die sie nutzen. Denen wollten wir zeigen, dass es in Europa auch Leute gibt, die die Grenzen überwindbar machen wollen«, sagt Matthias aus Berlin. Die Fähren seien Symbol einer Ungleichheit, sagt Arndt: »Europäer können damit reisen, wann sie wollen. Für Menschen aus Afrika ist die Überfahrt keineswegs selbstverständlich.«
Am Vorabend hatten die Aktivistinnen und Aktivisten an der Hafenpromenade von Palermo eine Gedenkfeier abgehalten. Sie breiteten eine Liste mit den Namen von rund 16 000 Toten aus, die Menschenrechtsgruppen seit 1993 gezählt haben. Beäugt von Zivil- und Bereitschaftspolizisten verlasen sie die Namen ertrunkener boat people und zündeten Kerzen an. Eine Delegation hatte zuvor mit italienischen Abgeordneten das sizilianische Internierungslager in Milo besucht. Dort hält die italienische Polizei derzeit 184 Tunesierinnen und Tunesier in Abschiebehaft. »Die Wärter verhalten sich, als wären dort Tiere eingesperrt«, sagt der Tunesier Riadh Ben Ammar, der fast zehn Jahre in einem mecklenburgischen Flüchtlingslager lebte. »Sie werden behandelt wie Verbrecher. Aber Migration ist kein Verbrechen.«
Es dauert Stunden, bis das Schiff ablegt. Auf dem Oberdeck, zwischen dem trockenen Swimmingpool und der Bar, bauen die Aktivistinnen und Aktivisten ihre Lautsprecheranlage auf und hängen die Ausstellungstafeln an die Reling. Sie verteilen Flugblätter und laden die Passagiere zu einer Versammlung ein. Immerhin rund 100 von ihnen kommen. »Europa übt eine wahnsinnige Anziehungskraft auf die jungen Tunesierinnen und Tunesier aus. Sie wollen es entdecken, aber schon der Versuch wird kriminalisiert«, sagt Ben Ammar. Viele applaudieren. Auch die Sicherheitsleute auf der Fähre zeigen sich wohlwollend: »Ihr dürft nur keine Beschäftigten der Reederei filmen.« Immer wieder melden sich auch Passagiere zu Wort, das Thema ist niemandem fremd.
Nach einiger Zeit taucht ein Tunesier auf, der vor einer Woche von der italienischen Polizei abgewiesen wurde und wegen fehlender Papiere auch nicht nach Tunesien zurück kann. Seitdem fährt er auf der »Zeus Palace« hin und her. Die Aktivistinnen und Aktivisten machen sofort ein Interview mit ihm – und handeln sich handfesten Ärger mit dem Kapitän ein. Der verlangt, dass das Interview sofort gelöscht wird – er fürchtet Ärger für die Reederei. Der Kameramann denkt nicht daran. »Ich bin das Schiff und ich mach deine Kamera kaputt«, schnauzt der Kapitän ihn an, Sicherheitsleute kommen hinzu, die Stimmung kippt. Doch nach einer längeren Diskussion verschwindet der Kapitän in Richtung Brücke, das Videoteam von B4P versteckt die Aufnahmen. Als das Schiff eine Stunde später in den Hafen von Tunis einläuft, gibt es keine Schwierigkeiten.

9. Juli, vor dem Sozialministerium in Tunis
Rund 20 Mütter von Harraga haben sich vor dem Tor versammelt. Sie tragen Kopftücher, ihre Augen sind gerötet, in der Hand halten sie golden gerahmte, großformatige Aufnahmen oder Ausdrucke von Fernsehbildern. Die sollen belegen, dass ihre Kinder in Italien angekommen sind. »Unsere Kinder haben die Revolution gemacht, jetzt fordern wir für sie Gerechtigkeit«, rufen sie. Rund 800 junge Menschen aus Tunesien sollen in den Monaten nach der Revolution im Meer ertrunken sein. Viele Angehörige glauben, dass ihre Kinder in italienische Gefängnisse gesperrt wurden, der Staat dies aber nicht zugeben will. Sie fordern, dass die tunesische Regierung Druck ausübt. Die Aktivistinnen und Aktivisten, die mit Transparenten gekommen sind, um den Protest zu unterstützen, beherzigen Bouallegues Warnung: Sie halten sich zurück.

11. Juli, Choucha an der libyschen Grenze
Das Thermometer zeigt schon am Vormittag deutlich über 40 Grad. Die Hitze lässt außerhalb des Schattens kaum einen klaren Gedanken zu. Seit einem Tag ist die Delegation von B4P aus Tunis in das Wüstenlager des UNHCR unterwegs, wo noch immer fast 3 000 Flüchtlinge aus dem Libyen-Krieg festsitzen. Einige Soldaten kommen in einem Jeep und verweisen die Aktivistinnen und Aktivisten des Camps. Und so findet das Treffen unter Eukalyptusbäumen am Straßenrand statt. Die Flüchtlinge stammen aus Somalia, Eritrea, Sudan und Nigeria. Nach Libyen können sie nicht zurückkehren, die Lage für Afrikanerinnen und Afrikaner aus subsaharischen Ländern ist dort zu gefährlich. In ihre Herkunftsländer können sie auch nicht zurück. Das UNHCR hat einige von ihnen als »schutzbedürftig« eingestuft und versucht, sie nach Europa und Nordamerika zu verteilen. Doch es wurden nur sehr wenige Aufnahmeplätze zugesagt. Und so sitzen viele in Choucha fest. So wie Rafiq aus Pakistan. Er ist 28 oder 29, so genau weiß er das nicht. Wie lange er in Chou­cha ist, weiß er hingegen genau: Seit dem 13. März 2011. Vor einem Jahr hatte ein Mob von Tunesiern das Lager angegriffen und fast niedergebrannt (Jungle World 22/2011), geändert hat sich seitdem kaum etwas. Nur die Trinkwasserleitungen wurden wegen der Infektionsgefahr abgestellt. Seitdem erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner eine 1,5-Literflasche Wasser am Tag. Die Delegation von B4P macht große Augen: Sie alle haben heute schon mehr getrunken, und es ist noch nicht einmal Mittag. »Hier gibt es Giftschlangen, das Essen macht uns krank, die Hitze ist gefährlich. Europa muss uns helfen«, sagt Rafiq. Am nächsten Tag steigt eine Delegation von neun Flüchtlingen mit den Leuten von B4P in Kleinbusse. Auf dem Vorbreitungstreffen zum Weltsozialforum (WSF) in Monastir sollen sie ihre verzweifelte Lage schildern.

13. Juli, Monastir, Institut für Biotechnologie
Hunderte Gewerkschafter und Delegierte aus der ganzen Welt sind zusammengekommen, um das erste Weltsozialforum in einem arabischen Land, das Anfang 2013 in Tunesien stattfinden wird, vorzubereiten. Migration ist einer der Schwerpunkte des Treffens. Die Panels von B4P an der Universität von Monastir ziehen Hunderte Menschen an. »Eure Kinder könnten noch leben, aber sie sind tot, denn es wird ein Krieg gegen die Armen aus dem Süden geführt«, sagt ein aufgebrachter Algerier den anwesenden Müttern von Harraga. »Wir sitzen in der Wüste fest, dort kann kein Mensch lange leben. Europa darf das nicht länger zulassen«, fügt einer junger Somalier hinzu. »Europa will den freien Austausch von Waren und Kapital mit Afrika«, sagt ein Aktivist aus Mali. »Aber die Afrikaner sollen draußen bleiben. Um dies durchzusetzen, wird sogar ihr Tod in Kauf genommen.«
Die »Oloferne« soll am Abend in den Fischereihafen einlaufen und von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am WSF-Vorbereitungstreffen empfangen werden. Doch es gibt Probleme: Das Boot ist zwar schon vor zwei Tagen angekommen und ankert in der Nähe. Jetzt ist aber der Wasserspiegel zu niedrig: Die »Oloferne« läuft weit draußen auf dem Meer auf eine Sandbank. Die Besatzung wird mit kleinen Motorbooten abgeholt. 368 Himmelslaternen sollen in einer Gedenkzeremonie entzündet werden, doch auch das läuft schief: Der Wind ist zu stark. Immer mehr Kinder aus einem nahen Vorort kommen hinzu, sie reißen die Packungen der Laternen auf und versuchen diese zu entzünden. Es ist eine Stimmung wie an Sylvester, doch den meisten gelingt es nicht, die Laternen steigen zu lassen. Nur wenige fliegen in den Himmel, die anderen verglühen und versinken dann im Wasser. Per Lautsprecher versuchen zwei Aktivistinnen, die Menge dazu zu bringen, sich in Kreisen aufzustellen, damit die Gedenkfeier beginnen kann. Doch das Chaos bekommen sie nicht in den Griff, entnervt brechen sie die Aktion ab. »Das geht hier echt gar nicht«, schimpfen einige, die ganze Abschlussaktion sei ein schlechter Witz. Nicanor Haon, der B4P koordiniert hat, findet, trotz all der Schwierigkeiten habe sich alles gelohnt: »Wir haben hier ein neues Netzwerk aufgebaut. Wir haben viele Leute zusammengebracht. Das macht uns stark und gibt uns Kraft für weitere Mobilisierung.«