Proteste von Flüchtlingen in Deutschland

Hungern für ein Leben

Die Lebensumstände von Flüchtlingen in Deutschland sind erbärmlich. Mittlerweile beteiligen sich immer mehr Flüchtlinge am Protest.

Als der Wachdienst und die Polizei in der Nacht zum 29. Januar die Tür zu Mohammed Rahsepars Zimmer aufbrachen, fanden sie den Asylbewerber tot auf. Er hatte sich in seinem Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft Würzburg, in der ehemaligen »Adolf Hitler«-Kaserne, erhängt. Wie die Tageszeitung Fränkischer Tag berichtete, hatten Mitbewohner den Sicherheitsdienst alarmiert, weil Rahsepar den Suizid angekündigt und sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte. Der Würzburger Arzt August Stich sagte, die »labile psychische Konstitution« des Mannes sei seit Monaten bekannt gewesen. Bereits im Dezember habe er Selbstmordabsichten geäußert und sei deshalb in der Würzburger Uniklinik für Psychiatrie begutachtet worden. Man habe empfohlen, »an der Art der Unterbringung etwas zu verändern«.

Dass die Art der Unterbringung möglicherweise ein Grund für die »labile psychische Konstitu­tion« Rahespars war, glauben auch die ebenfalls aus dem Iran stammenden Freunde des jungen Mannes, die mit ihm das Leben im Flüchtlingsheim geteilt haben. »Wir leiden unter dem langwierigen, Jahre anhaltenden Prüfungsprozess unserer Asylanträge und hoffen jeden Tag darauf, dass sich diese Folter der Ungewissheit schnellstmöglich zum Besseren wendet«, schrieben die Flüchtlinge an Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU). »Diese Ungewissheit und dass uns keinerlei Selbstständigkeit im Alltag gewährt wird, zermürbt uns und treibt uns Schritt für Schritt in den Tod.« Der Suizid Rahsepars sei »nur ein Beispiel dafür, wozu einen solche Umstände treiben«.
Ein weiteres Beispiel dafür, wozu einen solche Lebensumstände treiben, gaben die zehn iranischen Männer am 18. März. Nachdem Haderthauer signalisiert hatte, dass sie keinen Handlungsbedarf sieht, traten sie in den Hungerstreik. Ihre Forderungen umfassten die sofortige Schließung der Gemeinschaftsunterkünfte, den sofortigen Abschiebestopp in alle Länder, die Abschaffung der Residenzpflicht sowie die Anerkennung der protestierenden Iraner als politische Flüchtlinge. Ihre Aktion radikalisierte sich: Anfang Juni nähten sich acht von ihnen den Mund zu. Nur noch mit einem Strohhalm konnten sie trinken und vorsichtig sprechen. Pro Asyl kritisierte den Protest, Ärzte, Hilfsorganisationen und die Kirchen waren entsetzt. Die Stadt Würzburg sah gar die öffentliche Ordnung gefährdet und versuchte, die Aktion zu verbieten. Ihre Verfügung hatte jedoch vor dem Verwaltungsgericht Würzburg keinen Bestand: Ein Hungerstreik mit zugenähten Mündern in der Öffentlichkeit sei weder strafbar noch eine Ordnungswidrigkeit. Die Aktion sei vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt, selbst wenn diese Protestform »in weiten Kreisen der Bevölkerung als abstoßend empfunden werde«, entschieden die Richter. Erst am 6. Juli ließen sich die letzten der Iraner die Münder wieder öffnen.
Der Tod Rahsepars war der Auslöser für eine ganze Serie von bundesweiten Flüchtlingsprotesten. Im fränkischen Aub, in Bamberg, Düsseldorf, Hesepe und Regensburg traten Flüchtlinge in den Hungerstreik. Ähnlich der »Occupy«-Bewegung errichteten sie Zelte an öffentlichen Plätzen. Auf »weit über hundert« schätzt ein Mitglied der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge die Zahl der Beteiligten.
Im Düsseldorf errichteten Flüchtlinge in der Nähe des Landtags ein Protestcamp und mussten sich mit Schikanen der Polizei plagen. »Mahnwache kommt von Wachen und nicht von Schlafen«, sagte Polizeipräsident Herbert Schenkelberg. Er verbot den Demonstranten, Schlafstätten zu errichten. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf gab ihm Recht: Dauercampen sei als Demonstrationsform nicht durch die Versammlungsfreiheit gedeckt. Seitdem patrouillieren jede Nacht Polizeibeamte am Protestzelt, um das Schlafverbot durchzusetzen. Wer dagegen verstößt, wird geweckt.

Ihre Proteste richteten die Flüchtlinge auch gegen das Asylbewerberleistungsgesetz, das Mitte Juli vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde. »Man behandelt uns wie kleine Kinder«, sagt der Iraner Ashkan Khorasani aus Aub. »Es ist ein Grundrecht, selbst zu entscheiden, was man essen will.« Er sei noch nie in einem deutschen Supermarkt gewesen. Allerdings verhindere »Geld keine Abschiebungen und auch nicht die Isolation in den Unterkünften«, sagt Khorasani.
In den folgenden Wochen mussten immer wieder hungerstreikende Flüchtlinge ins Krankenhaus eingeliefert werden. Zuletzt traf es am 23. Juli im fränkischen Aub den 24jährigen Iraner Farid Mirzaie. Er hatte seit dem 2. Juni keine Nahrung mehr zu sich genommen, nach sieben Wochen versagten seine Nieren. Anfang August erreichte die Protestwelle auch Berlin: Am vergangenen Freitag eröffneten Flüchtlinge aus Berlin und Brandenburg ein Zelt auf dem Heinrichplatz in Kreuzberg. »Wir gehen nicht zurück ins Lager«, erklärten sie. Ob sie diesen Entschluss durchsetzen können, ist fraglich: Die Behörden verboten das Zelt.

Die sich ausweitenden Aktionen fallen in eine Zeit, in der die Flüchtlingspolitik in Bewegung gekommen ist. 20 Jahre hielten wechselnde Regierungen an der Linie fest, Flüchtlinge mit diskriminierenden Gesetzen zu schikanieren, um Deutschland als Fluchtziel so unattraktiv wie möglich zu machen. Doch die Einigkeit über diese Politik schwindet derzeit. So blamierte sich Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) mit seiner Weigerung, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sozialleistungen für Flüchtlinge zu akzeptieren. Er halte es »nach wie vor für richtig«, dass Asylsuchende mit weniger Geld leben müssen als Hartz-IV-Empfänger, sagte er bei einer Veranstaltung in Bamberg, anderenfalls würden »noch mal mehr Wirtschaftsflüchtlinge« angezogen. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) werde die neuen Sätze schon »so ausrechnen, dass der Abstand zu den Hartz-IV- und Sozialhilfesätzen gewahrt bleibt«. Doch von der Leyen bekräftigte in der vorigen Woche, dass »Menschenwürde und Existenzminimum unteilbar und unabhängig von Asylpolitik« seien. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), will geduldeten Flüchtlingen erlauben, an Deutsch- und Integrations­kursen teilzunehmen. Und Anfang August kündigte Hader­thauer an, Flüchtlingen in einem »Pilotversuch« Bargeld auszuhändigen. Bayern ist eines der letzten Bundesländer, die noch an den Essenspaketen festhalten. Ein Ende dieser Praxis war eine der zentralen Forderungen der Flüchtlinge. Schließlich einigten sich die EU-Mitgliedstaaten – inklusive Deutschlands – darauf, die Mindestdauer des Arbeitsverbots für Asylbewerber von zwölf auf neun Monate zu senken. Die FDP würde das Arbeitsverbot am liebsten ganz abschaffen, kann sich aber nicht gegen die CSU durchsetzen.
Die Flüchtlinge betrachten die politischen Debatten mit Skepsis. »Das wollen wir erstmal sehen«, heißt es bei den Protestgruppen. Die Intensität ihrer Aktionen wollen sie gleichwohl erhöhen. Am vorigen Wochenende trafen sie sich zu einer bundesweiten Konferenz in Frankfurt. Nächste Woche wollen sie sich bei einem bei einem neunwöchigen Camp mit dem Titel »Break Isolation« weiter austauschen. Eines der wichtigsten Ziele ist dabei die Kampagne gegen die Abschaffung der Residenzpflicht. Um dies durch­zusetzen, reicht der Hungerstreik als Mittel nicht. Stattdessen wollen sie in einem Marsch von Bayern nach Berlin kollektiv die Residenzpflicht brechen und das Ende dieses Gesetzes fordern.