Der Fall Julian Assange

Asyl auf Balkonien

Julian Assange wehrt sich mit allerlei Tricks und Lügen gegen seine strafrechtliche Verfolgung. Seine Fans halten zu ihm.

»@MMFlint: BREAKING: London cops now raiding Ecuador’s embassy …« Es waren Tweets wie dieser des Filmaktivisten Michael Moore, die die Fans von Julian Assange alarmierten und zugleich eindrucksvoll belegten, wie wenig die Diskussion über Assanges Flucht in die ecuadorianische Botschaft derzeit auf Fakten basiert. Dass die Live­streams mitnichten eine Erstürmung der diplomatischen Vertretung, sondern lediglich einige gelangweilt vor dem Haus herumstehende Polizisten zeigten, interessierte die Fans von Assange nicht. Noch zwei Tage später wurden auf Facebook und Twitter flammende Appelle gegen die angebliche Erstürmung der Botschaft verbreitet – während die Polizei nicht wesentlich ungelangweilter vor der Haustür stand, die zu der im Erdgeschoss gelegenen Wohnung gehört.
Großbritannien solle Assange unbehelligt ziehen lassen, lautete eine der Forderungen der Wikileaks-Anhänger – dabei hatte die ecuadorianische Regierung, wie aus der Erklärung des Außenministeriums hervorgeht, Assange mitnichten politisches, sondern lediglich diplomatisches Asyl gewährt. Der feine Unterschied: Beim diplomatischen Asyl, das im internationalen Recht nicht verankert ist, handelt es sich um das Recht, zum Beispiel so lange in einer diplomatischen Vertretung zu bleiben, bis eine angenommene Gefahr vorüber ist.

Die Verdrehungen, Halbwahrheiten und glatten Lügen, die Assange und seine Anhänger verbreiten, bleiben nicht unwidersprochen. Mehrere Blogs haben sich der Aufgabe gewidmet, die wichtigsten Irrtümer zum Fall Assange aufzuklären. Die sogenannte Red Notice, mit der er von Interpol auf Betreiben Schwedens zur Verhaftung ausgeschrieben worden war, werten viele Fans beispielsweise als Indiz, dass bei der Festnahme finstere Mächte im Spiel gewesen seien. Jennifer Robinson, die britische Anwältin von Assange, hatte nämlich öffentlich erklärt, dass die Red Notice »normalerweise nur für Diktatoren und Terroristen reserviert« sei, selbst Muammar al-Gaddafi habe »zum Zeitpunkt von Julians Verhaftung lediglich Orange Notice gehabt«.
Robinsons Darstellung entspricht jedoch nicht den Tatsachen: Red Notice ist die Aufforderung, eine Person zu verhaften, die von einer nationalen Anklagebehörde oder einem internationalen Tribunal gesucht wird – darunter laufen alle Verhaftungsaufforderungen. Unter den öffentlich einsehbaren aktuellen Fahndungen in dieser Kategorie befinden sich kaum politische Kriminelle, sondern mutmaßliche Diebe, Drogendealer und Sexualstraftäter. Eine Orange Notice ist dagegen eine Warnung vor einer Person, einem Ereignis oder einer Vorgehensweise, von der eine Bedrohung ausgehen könnte, im Moment betrifft dies zwei Gefängnisausbrecher. Mit einer Yellow No­tice wird um die Suche nach einer vermissten Person gebeten, mittels Black Notice ersucht man um Hilfe bei der Identifizierung von unbekannten Toten und per Blue Notice wird unter anderem um Informationen über Personen gebeten, gegen die ermittelt wird.

Die Behauptung Robinsons passt wunderbar in das Bild, das Assange seit Jahren von sich vermitteln möchte: Er sei ein unbeugsamer, nur der Wahrheit verpflichteter Mann, der ganz allein gegen das Böse, also die USA, kämpfe und dafür mit finsteren Methoden verfolgt werde. Zu diesen gehöre auch, dass er bloß wegen eines geplatzten Kondoms nach Schweden ausgeliefert werden soll. Dass die Anklagepunkte weit ernstere Vorwürfe umfassen, dürfte auch dem Australier bekannt sein, denn schließlich setzte er sich vor einem vereinbarten Verhörtermin nach Großbritannien ab. Von wo aus er und seine Fans unermüdlich behaupten, dass nicht einmal eine offi­zielle Anklage gegen ihn vorliege – um genau die zu verhindern, verließ Assange jedoch erst das Land. Denn nach schwedischem Recht kann eine Anklage nur nach einem Verhör und nicht in Abwesenheit erhoben werden. So ist auch Assanges Beharren darauf, die Ermittlungsbehörden sollen ihn telefonisch oder in London verhören, nichts als Propaganda. Denn selbst wenn Assange alle ihm zur Last gelegten Vergehen gestünde, könnte er immer noch nicht angeklagt werden, da er sich eben nicht in Schweden befindet.
Ähnlich verhält es sich mit Assanges Beteuerung, er werde nach Stockholm reisen, sobald eine offizielle Versicherung vorläge, dass er von dort nicht an die USA ausgeliefert werde. Der Wikileaks-Gründer glaubt schließlich daran, dass ihm dort die Todesstrafe droht. Dass Schweden wie die meisten anderen europäischen Länder niemanden ausliefert, dem die Hinrichtung droht, spielt für ihn ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass einer Auslieferung aus Schweden auch Großbritannien zustimmen müsste. Schweden, Assange zufolge das »Saudi-Arabien des Feminismus«, werde nämlich nicht nur von hysterischen Feministinnen gesteuert, sondern im Prinzip von den USA. Noch nie sei ein Auslieferungsbegehren der USA abgelehnt worden, betonen Assanges Anhänger immer wieder. Dabei mussten die USA sogar einen Doppelagenten laufen lassen, den ehemaligen CIA-Mitarbeiter Edward Lee Howard, der 1985 als KGB-Agent enttarnt wurde und schließlich nach Europa floh. 1992 wurde er zwar in Stockholm verhaftet, aber umgehend wieder freigelassen. Howard habe sich während seines mehrmonatigen Aufenthalts in Schweden nicht als sowjetischer Spion betätigt, daher sei er freizulassen, hatte ein Gericht zum großen Ärger der USA entschieden.
Ob Assange wirklich glaubt, mit verdrehten Fakten seine Fans bei der Stange halten zu können, ist unklar. Wenn er nicht auf einen Trick kommt, wie er die ecuadorianische Botschaft unerkannt verlassen kann, wird er wohl noch lange dort bleiben müssen. Zumal die schwedische Regierung keinerlei Anstalten macht, ihm zu versichern, ihn nicht in die USA auszuliefern. Das ginge auch nicht, denn solange kein offizieller Antrag vorliegt, gibt es keine Grundlage, auf der sich die schwedischen Behörden damit beschäftigen könnten. Auch das weiß Assange. So wird er eben in der Botschaft bleiben. Und bei nachlassendem öffentlichem Interesse wieder einmal vom Balkon aus flammende Reden halten.