Der nicht aufgeklärte Brandanschlag von Lübeck

Deutschland hat kein Alibi

Wenn in Deutschland Migranten attackiert werden, sind sie grundsätzlich selber schuld. Wie im Fall des NSU wurde auch beim Lübecker Brandanschlag statt gegen Nazis lieber gegen die Opfer ermittelt.

Randalierende Neonazis, die im Schutz Tausender Schaulustiger Molotow-Cocktails auf einen Wohnblock schleudern, Vietnamesen, die verängstigt aus den Fenstern eines mit Sonnenblumen verzierten Gebäudes blicken, und eine Polizei, die nicht willens ist, dem Treiben des Mobs ein Ende zu setzen – die Bilder des Rostocker Pogroms haben sich vielen Menschen ins Gedächtnis eingegraben. Was in jenen Augusttagen 1992 in der Ostseestadt geschah, lieferte Innenpolitikern die Rechtfertigung dafür, Zuwanderung zu beschränken und das Asylgesetz außer Kraft zu setzen.
Diese Verkehrung von Opfern und Tätern hat sich nicht nur ein guter Teil der deutschen Öffentlichkeit zu eigen gemacht. Auch viele Strafverfolger und politisch Verantwortliche nutzten sie in ihrem Sinne. Einseitige Ermittlungen, zerstörte Akten und angebliche Pannen, wie sie heute mit Blick auf den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ans Licht kommen, zählten schon in den neunziger Jahren zum kriminalistischen Standard­repertoire, wenn es galt, Verbrechen mit mutmaßlich rechtsextremem Hintergrund aufzuklären. Oder besser: wenn es galt, eine Aufklärung zu verhindern. Denn anders kann man das Vorgehen der Strafverfolger etwa im Fall des Brandanschlags auf eine Asylbewerberunterkunft in der Lübecker Hafenstraße am 18. Januar 1996 kaum charakterisieren. Zehn Menschen starben damals, 38 wurden zum Teil schwer verletzt.
Der Fall schien schnell geklärt zu sein: Am Morgen nach dem mörderischen Angriff nahm die Polizei vier deutsche Männer aus dem unweit gelegenen Grevesmühlen fest. Sie waren in Lübeck mehrmals in der Nacht gesehen worden, mindestens zwei stammten aus dem rechtsextremen Milieu. So ließ sich Maik W. gerne »Klein-Adolf« nennen und war den Behörden bekannt, weil er Hakenkreuze gesprüht hatte. Ein Freund berichtete zudem, W. habe ihm erzählt, er habe in Lübeck etwas angesteckt oder werde das demnächst tun. Dirk T. räumte beim Verhör ein, seine Gruppe sei auch »in Rostock mit dabei« gewesen.

Nach der Festnahme stellten Gerichtsmediziner bei dreien der Männer Versengungen an den Haaren, Wimpern und Augenbrauen fest. Dirk T. erklärte, er habe sich die Verbrennungen beim Anzünden seines Ofens zugezogen, die anderen lieferten skurrile Geschichten: Maik W. will einen Hund mit Haarspray eingesprüht und dann angezündet haben. René B. habe, so schilderte er, im Dunkeln Benzin aus seinem Mofa abgezapft. Um etwas zu sehen, habe er ein Feuerzeug angezündet und plötzlich sei eine Stichflamme entstanden. Spätere Untersuchungen ergaben, dass sich die Grevesmühlener ihre Verbrennung maximal 24 Stunden vor ihrer Festnahme zugezogen hatten. Dennoch wurden die kruden Erklärungen nie mehr in Frage gestellt. Das wäre auch schwierig gewesen, denn die Haarproben verschwanden eines Tages in den Räumen des Landeskriminalamtes.
Doch das Urteil der Strafverfolger stand ohnehin schnell fest: Die Männer sind unschuldig. Wenige Stunden, nachdem sie festgenommen worden waren, bestätigten Polizeibeamte, dass sie drei der Vier zur Tatzeit an einer Tankstelle gesehen hätten, die weit von der Hafenstraße entfernt liegt. Das Alibi entpuppte sich zwar später als wenig tauglich, zudem wusste in diesem Moment niemand, wann das Feuer genau ausgebrochen war. Von solchen Widrigkeiten unbeirrt stellte die Bundesanwaltschaft (BAW) jedoch klar: »Die zunächst als tatverdächtig angesehenen Jugendlichen scheiden bereits am 19. Januar wieder aus.« Maik W., Dirk T., René B. und Heiko P. wurden freigelassen.

Noch am selben Abend nahm die Polizei einen neuen Verdächtigen fest. Safwan Eid, der mit seiner Familie in dem Haus gewohnt hat, sollte nun für den Brand verantwortlich sein. Zwei Tage später präsentierte Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz die Aussage des Rettungssanitäters Jens Leonhardt. Ihm gegenüber soll der Libanese »Wir warn’s« gesagt haben. Nun kamen die Strafverfolger in Fahrt: Den Ermittlungen der NSU-Morde ähnlich legten sie große Phantasie an den Tag, um im vermeintlich kriminellen Milieu der Flüchtlinge zu wühlen; Indizien, die für Rechtsextremisten als Täter sprachen, verfolgten sie dagegen praktisch nicht weiter. Von Streitigkeiten im Haus war nun die Rede, obwohl fast alle Bewohnerinnen und Bewohner bestätigten, man habe sich untereinander gut verstanden. Gezielt, so scheint es, kolportierten die Ermittler falsche Informationen. So soll Eid dem Sanitäter den Ort des Feuerausbruchs im ersten Obergeschoss genannt haben. In Leonhardts Zeugenbericht ist davon jedoch nicht die Rede. Ohnehin konnte nicht einmal die Anhörung von zahlreichen Zeuginnen, Zeugen und Sachverständigen in den Verfahren gegen Eid definitiv klären, wo das Feuer tatsächlich ausgebrochen war. Vieles spricht dafür, dass der Brand im Erdgeschoss gelegt wurde – und damit für einen Anschlag von außen.
Ein halbes Jahr saß Eid im Gefängnis, zweimal wurde er freigesprochen. Aus den Sätzen, mit denen er sich belastet haben soll, lasse sich keine Tatbeteiligung ableiten, urteilte der Kieler Richter Jochen Strebos im Revisionsverfahren. Ein schwerer Schlag für die BAW. Die hatte auf den zweiten Prozess gedrängt, weil im ersten illegal im Gefängnis abgehörte Gespräche Eids nicht einbezogen worden waren. Doch auch der Lauschangriff konnte den Verfolgungswillen der Bundesanwälte nicht befriedigen. Die Aufnahmen sprächen eher dafür, so Strebos, »dass der Angeklagte vom Brand überrascht wurde und dass er keine Kenntnis über die Brandlegung besaß«.

So zäh die Strafverfolger an Eids Schuldigkeit festhielten, so hartnäckig bemühten sie sich, die Grevesmühlener aus dem Verfahren herauszuhalten. Dabei gaben sich die jungen Männer alle Mühe, die Ermittler von ihrer Täterschaft zu überzeugen. Sowohl Maik W. als auch Heiko P. hatten nach Zeugenangaben damit geprahlt, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein, René B. beschuldigte Dirk T. der Mittäterschaft. Als 1998 der wegen Autodiebstahls im Gefängnis Neustrelitz einsitzende Maik W. Mithäftlingen seine Tatbeteiligung gestand, eröffnete die Staatsanwaltschaft neue Ermittlungen. Doch auch dieses Verfahren verlief im Sand. Er sei »erstaunt« gewesen, wie wenig Interesse die Beamten an den Aussagen W.’s hatte, berichtete Haftleiter Peter Dannenberg damals der Jungle World (30/1998). Auch eine andere Spur verfolgten sie nicht weiter: Offenbar hatte Dirk T. schon vor seiner Festnahme Beziehungen zu den Staatsschützern des Landeskriminalamtes. War er für die Behörde als V-Mann tätig?
Ermittlungspannen? Versäumnisse? Wie auch im NSU-Verfahren fällt es schwer, die einseitigen Ermittlungen als Fehler zu werten. Im Gegenteil: Die Erkenntnisse über die konsequente Nicht-Verfolgung des Zwickauer Neonazi-Trios legen nahe, dass auch in Lübeck die Geheimdienste mit im Spiel sind. Dafür spricht auch die Entschlossenheit, mit der sich die Strafverfolger bis heute energisch weigern, den Fall aufzuklären. »Die Staatsanwaltschaft Lübeck wird diesen Fall nicht aufklären, weil sie sich selbst verteidigt«, erklärte die ehemalige Verteidigerin Safwan Eids, Gabriele Heinecke, jetzt der Jungle World und fordert, dass das Verfahren wieder eröffnet wird. Strafverfolger Schultz hat diese Anschuldigung freilich als »absurd« verworfen. Einen Vorwurf kann er aber trotz aller Ignoranz gegenüber den Fakten nicht von sich weisen: Die Straflosigkeit im Lübecker Brandanschlag war ein ermutigendes Signal für militante Neonazis. Zwei Jahre nach dem mörderischen Feuer tauchen die NSU-Mitglieder ­Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ab.