Jochen Thelo im Gespräch über den Gedenktag und die Erinnerungskultur in Rostock

»Es bleibt ein unliebsames, schmerzvolles Thema«

Am kommenden Samstag wird in Rostock-Lichtenhagen eine antifaschistische Demonstration am Ort des Geschehens stattfinden. Nicht nur, um an das Pogrom zu erinnern, sondern auch, um auf den fortbestehenden Rassismus hinzuweisen. Jochen Thelo, Sprecher des Bündnisses »20 Jahre nach den Pogromen – Das Problem heißt Rassismus«, das bundesweit zur Demonstration aufruft, über den Umgang mit dem Gedenken in Rostock.

Welche Rolle spielen die Ereignisse vom August 1992 heute im Alltag und im Selbstbild der Menschen in Rostock?
Die Sache mit Lichtenhagen ist hier in Rostock auf jeden Fall weiterhin ein Thema. Durch den 20. Jahrestag ist die Geschichte derzeit auch in den Lokalzeitungen sehr präsent. In den vergangenen Jahren war Lichtenhagen aber für die Menschen in Rostock immer so etwas wie ein dunkles Kapitel der eigenen Geschichte. Die Leute hier sind zwar grundsätzlich bereit, sich gegen menschenverachtende Einstellungen wie Rassismus abzugrenzen, verspüren aber gleichzeitig oftmals ein großes Unbehagen, wenn man sie auf ihre Rolle und ihr eigenes Verhalten damals anspricht.
Wie ist Ihre persönliche Erfahrung? Ist Rostock heute anders als früher?
In gewisser Weise schon. Rostock ist heute weder eine Hochburg der Neonazis, noch gibt es in den politischen Debatten in der Stadt einen besonders stark ausgeprägten Rassismus. Die Leute hier haben das Gefühl, aus der Geschichte gelernt zu haben und gewissermaßen geläutert zu sein, aber es bleibt für die meisten doch eher ein unliebsames, schmerzvolles Thema. Was allerdings auch noch immer sehr dominant ist, ist die Legende, dass es damals lediglich »Randalierer von außerhalb« gewesen seien, die die einheimischen Jugendlichen aufgewiegelt und angestiftet hätten. Da sehen sich viele Menschen in Rostock dann gerne selbst in der Opferrolle. Die wahren Opfer des Pogroms geraten dabei schnell aus dem Blick.
Gibt es eine institutionelle Erinnerungskultur in der Stadt?
Die offizielle Erinnerungskultur ist vor allem auf Bewältigung ausgelegt. Der Pogrom wurde in der Vergangenheit oft als etwas gedeutet, das von außen über die Stadt hereingebrochen ist und nicht als etwas, das seinen Ursprung in der Stadt und den Menschen hier hatte. Dass es Tausende Anwohner waren, die geklatscht haben, als ihren Nachbarn die Wohnung angezündet wurde, wird in dieser Selbstwahrnehmung dann gerne verschwiegen.
Es gibt allerdings auch zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich um einen anderen Umgang mit der Geschichte bemühen. Ein lokales Stadtzeitungsprojekt etwa hat den Film »The Truth Lies In Rostock« mittlerweile mehr als 10 000 Mal kostenlos verteilt, und der Verein »Soziale Bildung e.V.« hat einen Schulprojekttag zu dem Thema entwickelt, der speziell auf Rostocker Schülerinnen und Schüler zugeschnitten ist und mittlerweile auch an mehreren Schule durchgeführt worden ist.
Wie stellt sich die örtliche Neonaziszene zu den Pogromen?
Die NPD hat sich im Landtagswahlkampf 2011 ganz selbstbewusst positiv auf den Pogrom bezogen und ihn als Volksaufstand bezeichnet. Michael Andrejewski, der Hamburger Neonazi, der vor dem Pogrom Flugblätter in Rostock verteilt hatte, in denen gegen Flüchtlinge gehetzt wurde, hat auf einer Kundgebung vor dem Sonnenblumenhaus wieder Hetzreden gehalten. Zu dieser Aneignung der Geschichte haben die Neonazis aber auch allen Grund, denn im Zuge der gesellschaftlichen Stimmung, die zu den Pogromen in Hoyerswerda und Lichtenhagen geführt hatte, sind die Neonazis mit einigen ihrer Hauptforderungen in der Bundesrepublik für eine bestimmte Zeit hegemonial geworden. Die Parole »Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!«, die 1992 von Neonazis und Rostocker Bürgern skandiert wurden, ist ja bekanntlich nur wenige Wochen später durch die großen Volksparteien mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts in die Tat umgesetzt worden.
Wie reagiert die Rostocker Bevölkerung auf den Aufruf Ihres Bündnisses?
Der Aufruf wird schon von vielen wahrgenommen, es gibt in der regionalen bürgerlichen Presse allerdings kaum öffentliche Reaktionen darauf. In der überregionalen Presse und in der Linken ist das Interesse an der Beschäftigung mit Rostock-Lichtenhagen hingegen enorm.
Einen Tag nach der antifaschistischen Demonstration findet eine Gedenkkundgebung des Bündnisses »Lichtenhagen bewegt sich« statt. Wo liegen da die inhaltlichen Unterschiede?
Uns ist im Gegensatz zu dem Bündnis wenig daran gelegen, Lichtenhagen als bunten, weltoffenen Stadtteil darzustellen. Uns ist klar, dass die Stimmung in Lichtenhagen heute nicht mehr dieselbe ist wie 1992. Auch in Bezug auf Neonazis kann man sagen, dass es in der Stadt andere Viertel gibt, in denen sie viel präsenter sind. Dennoch fordern wir eine politische Beschäftigung mit dem Ereignis. Das bedeutet, sich die Konsequenzen von Lichtenhagen vor Augen zu halten. Dazu zählt für uns vor allem die Abschottung Europas gegen Flüchtlinge aus dem globalen Süden, der allein im Mittelmeer regelmäßig Tausende von Menschen zum Opfer fallen.
Das Bündnis »Lichtenhagen bewegt sich« dagegen will jetzt vor dem Sonnenblumenhaus eine 20jährige Eiche pflanzen. Eine solche auf Symbolik angelegte, unkritische Gedenkpolitik wirkt auf uns schon ziemlich skurril.
Und vor allem, was für ein Symbol …
Wir haben natürlich versucht, zu verstehen und zu deuten, was das soll, aber wir sind da nicht sehr weit gekommen. Anstatt vielleicht einen weiteren interkulturellen Garten anzulegen, pflanzt man ein urdeutsches Symbol genau an dem Ort des Pogroms. Das ist schon schräg.
Schräg ist auch, dass bei der Veranstaltung am Sonntag ausgerechnet Bundespräsident Joachim Gauck sprechen soll, der in der Vergangenheit schon öfter dadurch aufgefallen ist, dass es von der Gefahr einer »Überfremdung« gesprochen und Thilo Sarrazin als »mutig« bezeichnet hat. Was halten Sie von dieser Einladung?
Eigentlich ist der da völlig fehl am Platz, weil er inhaltlich noch nie etwas zu diesem Thema gemacht hat. Wir sind aber auch der Meinung, dass damit in allererster Linie die Veranstaltung aufgewertet und vielleicht auch einfach Publikum angelockt werden soll.
In einem Artikel in der Märkischen Allgemeinen wird Gauck mit den Worten zitiert, es habe überall »verführbare wie bösartige und fremdenfeindliche Menschen« gegeben und in der DDR sei Wahrheit »gern mit Gewalt durchgesetzt« worden, weshalb dann auch die Jugendlichen aus dem Osten in der Nachwendezeit oft zu Gewalt als Problemlösung gegriffen hätten. Überrascht Sie diese Detuung?
Überhaupt nicht. Der Mann ist ein ausgemachter Antikommunist. Er kann nichts anderes als DDR-Bashing. Das ist seine Rolle und da kommt er auch nicht mehr raus.
Und gerade jetzt hat die Stadt Rostock ihm auch noch die Ehrenbürgerschaft verliehen.
Genau. Da fragt man sich natürlich schon, wieso ausgerechnet er geehrt wird und nicht etwa die Antifaschistinnen und Antifaschistinnen, die damals den Menschen im Haus geholfen und sie unterstützt haben. Wir fordern zwar nicht, dass sie die Ehrenbürgerschaft verliehen bekommen, aber wir würden uns schon wünschen, dass ihnen von der Stadt mal Respekt gezollt wird, dass ihr Mut und ihre Solidarität anerkannt werden.
Wenn wir all das zusammennehmen, erscheint es wenig wünschenswert, mit der bürgerlichen Mitte zusammen zu gedenken. Müsste nicht eigentlich eher gegen sie demonstriert werden?
Zunächst einmal muss ich da natürlich sagen, dass es diese bürgerliche Mitte für uns nicht gibt. Das ist in unseren Augen nichts weiter als ein Konstrukt. Aber auch in dem, was für gewöhnlich »bürgerliche Mitte« genannt wird, gibt es viele Menschen, die unsere Kritik teilen. Das zeigt sich ja auch daran, dass unser Bündnis kein rein linksradikales, sondern ein ziemlich breites ist. Das zeigt sich aber auch daran, dass es schon damals in Lichtenhagen, das ja auch gar kein explizit rechter, sondern eher ein linksliberal geprägter Stadtteil ist, Menschen gab, die sich mit den Opfern solidarisiert haben und die versucht haben, zu helfen. Wir wollen aus der Demonstration auch gar keine reine Antifa-Veranstaltung machen. Was wir wirklich wollen, ist, eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über Alltagsrassismus und institutionalisierte Diskriminierung, Lager­unterbringung, Abschiebungen und Grenzregime anzustoßen. Das ist für uns genauso wichtig wie das Erinnern und das Gedenken.