30 Jahre Helmut Kohl

Zurück zur Beweisaufnahme

Auch nach fast zwei Jahren hält der »Piraten-Prozess« in Hamburg neue Überraschungen bereit.

Eigentlich sollte es nun schnell zu Ende gehen: Die Staatsanwälte haben bereits ihre Plädoyers gehalten, ebenso 14 der 20 Verteidiger. Nach fast zwei Jahren, über einer Million Euro Gerichtskosten und über 100 Verhandlungstagen schien das Urteil im umstrittenen Verfahren gegen die zehn Angeklagten aus Somalia in greifbarer Nähe. Die mutmaßlichen Piraten sollen am 5. April 2010 die »Taipan«, ein Containerschiff der Hamburger Reederei Komrowski, beschossen und geentert haben (Jungle World 48/2010). Die Besatzung flüchtete sich in einen Schutzraum und harrte dort aus, bis Soldaten der niederländischen Marine das Schiff nach wenigen Stunden stürmten. Die Angeklagten wurden damals »festgesetzt«, wie die offizielle Sprachregelung lautet. Damit wird die heikle Frage umgangen, warum sie nach der Festnahme nicht freigelassen wurden, da sie nicht, wie es die deutsche Strafprozessordnung vorsieht, unverzüglich einem Haftrichter vorgeführt wurden. Die Ermittlungsbehörden werfen den Angeklagten vollendeten erpresserischen Menschenraub, Schiffssabotage und gefährlichen Eingriff in den Schiffsverkehr vor.

Vorige Woche musste das Gericht allerdings – wieder einmal – die Schlussvorträge abbrechen und erneut in die Beweisaufnahme eintreten. Es sah sich veranlasst, einem Hilfsbeweisantrag nachzugehen, den die Verteidiger Arne Timmermann und Gabriele Heinecke in ihrem Plädoyer gestellt hatten. So seien erneut Telefonnummern auf Notizzetteln und Telefonanträgen der Angeklagten mit den Adressbüchern ihrer drei Mobiltelefone verglichen worden, sagte Richter Bernd Steinmetz. Dabei tauchten Widersprüche und Fragen auf, die vor allem Angaben betreffen, die der Kronzeuge für den Antrag auf eine Telefonerlaubnis gemacht hatte, den seine Verteidigung noch vor Prozessbeginn im August 2010 für ihn beim Hamburger Amtsgericht gestellt hatte. Der Kronzeuge hatte im Frühjahr dieses Jahres seine Version des Überfalls geschildert und andere Angeklagte schwer belastet. Staatsanwaltschaft und Gericht folgten seiner Version bislang. Zeugenvorladungen und weitere Beweisanträge, die Anwälte der belasteten Angeklagten eingereicht hatten, lehnte das Gericht ab. Nun scheint es Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Kronzeugen zu geben. »Da sind vier Punkte, die uns stutzig machen«, erklärte der Richter vorige Woche. Es gebe, so Steinmetz, Widersprüche zu Angaben, die der Kronzeuge während des Prozesses gemacht hatte. Der Richter bot ihm an, sich vor der Beantwortung der Fragen mit seiner Verteidigung zu beraten. Der Kronzeuge reagierte gereizt, eine Telefonnummer sei die eines »Hintermannes«, ernannte dessen Namen und sagte: »Ich werde noch verrückt hier!« Nach einer Verhandlungspause wurde der Kronzeuge, der schwer depressiv sein soll, für verhandlungsunfähig erklärt und die Verhandlung vertagt.

Die Staatsanwaltschaft hatte im September langjährige Haftstrafen für die zehn angeklagten Somalier gefordert. Die sieben erwachsenen Angeklagten sollen für sechs bis zwölf Jahre ins Gefängnis. Für die drei Jugendlichen, die seit April 2012 in einer Jugendwohnung leben und deren Betreuer voll des Lobes angesichts ihres Verhaltens sind, hatte sie vier bis fünfeinhalb Jahre Gefängnis gefordert. Obwohl Aussage gegen Aussage steht, was die Beschuldigungen des Kronzeugen betreffen, hatte die Staatsanwaltschaft die Strafmaßforderung für einen der Angeklagten um zwei Jahre erhöht, da er der Anführer gewesen sein soll. Ob die Staatsanwälte und die Richter ihre Einschätzung angesichts der jüngsten Erkenntnisse ändern werden, wird sich Mitte Oktober zeigen. Zumindest dürfte die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen erschüttert worden sein, der – geht es nach den Wünschen der Staatsanwaltschaft – für seine Aussagen zwei Jahre weniger im Gefängnis bleiben soll als noch im Frühjahr gefordert. Möglicherweise werden nun bereits gehaltene Schlussvorträge ergänzt oder neu gehalten. Mit einem Urteil wird Mitte Oktober oder Anfang November gerechnet. In den bereits vorgetragenen Plädoyers forderten viele Anwälte die Einstellung des Verfahrens oder zumindest die Freilassung der Angeklagten durch Aufhebung des Haftbefehls oder durch Haftverschonung.

Angeführt wurden politische, rechtliche und humanitäre Gründe. In seinem Schlussvortrag kritisierte der Rechtsanwalt Philipp Napp den Prozess als »geisterhaft« und »absurd«. Das Gericht sei nicht in der Lage, über ein Verbrechen, das in 9 000 Kilometern Entfernung begangen worden sei, gerecht zu urteilen. Gabriele Heinecke sagte, ihr Mandant warte bis heute darauf, seine Angaben durch einen Zeugen aus Somalia bestätigen zu können. Die Kammer habe aber »alle Zeugen in Somalia unter anderem mangels Hausnummern für unerreichbar erklärt«. Angeführt worden sei auch, dass es sich in Somalia um einen failed state handele. Das könne nur »zur Undurchführbarkeit eines derartigen Verfahrens« führen, »aber nicht zur Verurteilung«. Das Gericht wende das Gesetz an, sei jedoch in diesem Verfahren »an die Grenzen des Gesetzes gestoßen« und meine, »trotzdem verurteilen zu müssen«, so Heinecke. Zudem werde Eigentum höher bewertet als die körperliche Unversehrtheit angesichts der »Dauergefahr« in Somalia. Die Staatsanwaltschaft hatte das hohe Strafmaß auch damit begründet, dass die Taipan eine wertvolle Fracht geladen hatte – wobei der Öffentlichkeit immer noch nicht bekannt ist, was sich in den Containern befand. Manfred Getzmann, Verteidiger eines jungen Angeklagten, beschrieb Deutschland als »das Fettauge in der globalen Ökonomie«, dessen Exportrekorde und Gewinne hungernden Menschen in Afrika gegenüberstünden. Auch andere Verteidiger verwiesen auf die Hungersnot. Die Dortmunder Anwälte Andrea Rusch­meier und Michael Budde beantragten für ihren Mandanten Freispruch. Bei Eingabe seines aktuellen Gewichts in eine Tabelle des Body-Mass-Index habe das Ergebnis gelautet: »Lassen Sie sich sofort stationär behandeln!« Nach jahrelanger Unterernährung sei für ihren Mandanten keine regelmäßige Nahrungsaufnahme mehr möglich. Das Gericht wisse das.