Anonymous-Gruppe Hamburg im Gespräch über Netmobbing, Wikileaks und den Umgang mit Kritik

»Digitalen Lebensraum verteidigen«

Egal was Anonymous tut – es landet in den Schlagzeilen. Dabei sind sich die Mitglieder des anonymen Kollektivs gar nicht so einig, wie es von außen scheint. Die Gruppe Anonymous Hamburg redet gern Klartext, auch über Dusseligkeiten, so gennante Fails, anderer Aktivisten. Ein Gespräch über Mobbing, Ziele, DDoS und Masken.

Falls ihr je vorhattet, euch für andere Anons, also andere Mitglieder von Anonymous, zu schämen, wäre vorige Woche eine gute Gelegenheit gewesen. Anonymous hatte stolz private Details über denjenigen, der angeblich die 15jährige Amanda Todd gemobbt hatte, veröffentlicht – und musste kurz darauf eingestehen, die falsche Person erwischt zu haben. Wie peinlich war euch das?
Das ist ein normaler Zustand bei Anonymous. Um mehr Manpower beim Kampf gegen Scientology zu erhalten, hat man damals den Satz »jeder kann Anonymous sein« geprägt. Das heißt aber auch, dass jeder Idiot hingehen und sagen kann: »Ich bin Anonymous, ich mache nun dies und jenes«, wo wir dann dauerfacepalmen (Ausdruck für Scham, Anm. d. Red.). Uns ist es immer peinlich, wenn Moralfags, also jene Anons, die mit starken Moralvorstellungen auffallen, mediale Aufmerksamkeit erhalten. Das stellt uns als ethik­orientierte Ritter dar, die jedem helfen wollen. So wollen wir nicht gesehen werden. Wir wollen eigentlich nur uns helfen, bei der Erhaltung unseres Lebensraumes, des Netzes.
Was denkt Ihr über den Fall Amanda Todd?
Eine traurige Geschichte, allerdings auch sehr gehypt. Jeden Tag bringen sich Menschen aus den unterschiedlichsten Beweggründen um, bei Amanda scheinen die Leute es sich etwas leicht zu machen, wenn sie nun sagen: »Die Mobber sind schuld.« Schaut man genauer hin, sieht man eigentlich, dass viel mehr dahinter steckt. Sie stammt aus zerrütteten Familienverhältnissen und hat, laienpsychologisch interpretiert, wohl schon sehr früh versucht, mit Sexualität ihren Mangel an Freunden auszugleichen, was ihr dann aber mehr Feinde als Freunde einbrachte. Das Mobbing fand also nicht nur im bösen Internet statt, sondern schon viel früher, in der Schule – und das haben wahrscheinlich viele von uns als »Nerds« nicht anders erlebt. Kinder und Jugendliche sind dort oft sehr grausam, und das Internet macht es möglich, dieses Mobbing weiterzuführen, auch unabhängig vom Wohnort. Da kommt auch das Thema Medienkompetenz ins Spiel. Eltern würden ihre Kinder nie unbeobachtet mit Erwachsenen irgendwo spielen lassen, aber sie lassen ihre Kinder unbeaufsichtigt ins ungefilterte Internet.
Habt ihr jemals überlegt, wie ihr reagieren würdet, wenn euer Kind im Internet gemobbt würde?
Gerade unsere Kinder würden genug in Sachen Medienkompetenz auf dem Kasten haben, um damit umgehen zu können. Die Mobber töten wir natürlich trotzdem. Aber ernsthaft, das ist ein umfangreiches Thema. Wir kennen die Methoden solcher Leute recht gut – weil es unsere eigenen Methoden sind. Man sollte einem Kind schon früh beibringen, dass es niemals seinen Klarnamen im Netz verwenden sollte. Wenn das Kind gemobbt wird, kann man die Accounts, E-Mail-Adressen usw. einfach fallen lassen. Es ist immer hilfreich, den Mobbern und Trollen einfach kein Futter mehr vorzusetzen.
Ihr distanziert euch ziemlich oft von Aktionen anderer Anons. Wird das nicht langsam lästig?
Bisher haben wir ein Statement abgegeben und erklärt, warum wir mit einem Thema nicht konform gehen. Derzeit arbeiten wir an einem umfangreicheren Statement, dem sich verschiedene Zellen anschließen können. Wir sind eigentlich recht wenig damit beschäftigt, weil wir die meisten Dinge kaum beachten.
Nun wird eure Situation ja vermutlich nicht besser, denn mit zunehmender Bekanntheit wollen immer mehr Leute zu Anonymous ­gehören. Welche Möglichkeiten hat ein anonymes Kollektiv, Menschen auszuschließen?
Mobben. Kein Scherz. Der Umgangston bei Anon ist immer eine ganze Ecke rauer. Wer damit klarkommt, ist selten jemand, mit dem wir Probleme haben. Aber wer Anon nicht wirklich kennt und trotzdem bei uns seine seltsamen Ziele durchdrücken will, kann in der Regel diesen rauen Ton nicht ab. Es ist normal bei uns, dass auf jede neue Idee erst einmal Shitstorms folgen. Bei guten Ideen schwenkt das schnell um, bei schlechten eben nicht. Oft ist die Person hinter der Idee nicht bekannt, dann richten sich die Shitstorms eher gegen die Idee. Ist die Person aber bekannt und fiel schon öfter auf die Weise auf, geht der Shitstorm auch mal an sie. Die, die nicht von unserer Geschichte gehört haben und sich trotzdem für Anonymous halten, sind meistens Moralfags, die mit uns nichts zu tun haben wollen, weil wir so sind, wie wir eben sind.
Wikileaks und Anonymous galten lange als eng befreundet. Damit scheint es nun vorbei zu sein. Warum?
Anonymous ist prinzipiell mit niemandem befreundet. Wir haben lediglich mit einigen Gruppen öfter zu tun, wenn sich die Themen überschneiden. Einige Anons stehen Wikileaks kritisch gegenüber, einige nur Assange. Einige finden Wikileaks aber auch durchweg gut.
In Deutschland versuchte zuletzt die rechtspopulistische »Partei der Vernunft« (PDV), sich an Anonymous anzubiedern. Gilt der Slogan »Not your personal army« eigentlich noch?
Anonymous arbeitet zielorientiert. Die Proteste gegen Indect (ein EU-Forschungsprojekt zum Thema intelligente Sicherheitssysteme, bei dem z. B. Kameras und Drohnen abweichendes Verhalten von Menschen erkennen sollen, Anm. d. Red.) sind ein gutes Beispiel. Uns ist egal, wer neben uns demonstriert, solange es um das Ziel geht. Aufgrund der Anonymität ist es sowieso nicht möglich, jede Person erst einmal genau zu überprüfen, und daher ist es uns auch bei Nicht-Anons egal, solange diese ihre persönlichen Belange aus dem Kollektiv heraushalten. Da kann es auch mal sein, dass wir auf die Fresse fliegen und irgendwelche Nazi-Satanisten Demonstra­tionen anmelden – was dann Monate später vielleicht rauskommt. Nur weil einzelne Anons in diesem einen konkreten Fall mit der PDV zusammengearbeitet haben, heißt das nicht, dass wir uns zur PDV hingezogen fühlen.
Ihr seht euch selbst als Aktivisten. Wogegen beziehungsweise wofür kämpft ihr?
Wir sind Aktivisten für das Internet. Wir kämpfen gegen Internetzensur, User-Überwachung, Pro­vider-Haftung, die Content-Mafia und so weiter, damit das Internet in seiner jetzigen Form, so wie wir mit ihm aufgewachsen sind und es mit uns gewachsen ist, bestehen bleibt. Wir verteidigen also unseren digitalen Lebensraum. Es ist in der Vergangenheit immer wieder so gewesen, dass Menschen Dinge verteufeln, die sie nicht verstehen, und dann etwas Dummes tun, wie zum Beispiel etwas verbieten. Und die Internetausdrucker haben immer wieder gezeigt, dass auch sie dafür anfällig sind.
Warum müsst ihr dazu anonym sein und Masken tragen?
Die Anonymität kommt noch aus den Ursprungszeiten auf den Chans (Imageboards, Internetplattformen für den Austausch von Bildern, Anm. d. Red.). Sie hat den großen Vorteil, dass unsere Argumente in der Regel von der Person losgelöst betrachtet werden können. So können, zumindest im Idealfall, gut recherchierte Beiträge nicht vom eventuell schlechten Image einer Person überschattet werden. Natürlich kann die Anonymität auch negativ sein, wenn wir zum Beispiel Google-Lobbyisten wären, würde das erstmal nicht so auffallen. Den Real-Life-Teil der Aktivitäten erledigen die meisten von uns als Nicht-Anons, denn ohne Maske ist man in der Masse anonymer, und die Maske dient uns nur als Schutz vor der Verfolgung durch die Sekte Scientology, die wir seit 2008 bekämpfen.
Unbegrenzte Ressourcen vorausgesetzt: Gibt es ein Projekt, das ihr gern machen würdet?
Ja, . Und wahrscheinlich Leute einstellen, die für uns den ganzen lästigen Aktivismus erledigen, der keinen Spaß macht, wie Demos anmelden oder die Technik organisieren.
Welche Anonymous-Aktionen stehen an der Spitze eurer persönlichen Fremdschämliste?
Occupy, die Bewegung wurde ja auch leider von einigen unterstützt, die sich Anonymous nennen, aber auch die #OpBlitzkrieg, eine Aktion gegen Neonazis mit den falschen Mitteln, und die #OpLolokaust, bei der ein paar muslimische Fundamentalisten auf Facebook gegen islamkritische Karikaturen auf einer Witzseite vorgehen wollen.
Ihr verweist gerne darauf, dass eure Gruppe anders sei als andere. Inwiefern seid ihr anders?
Weil wir liefern.
Ihr schämt euch für Aktionen und nennt DDoS-Attacken (distributed denial of service, eine Methode zum Lahmlegen von Websites, Anm. d. Red.) peinlich. Was verbindet euch noch mit dem diffusen Konstrukt Anonymous?
DDoS ist nicht unbedingt peinlich, aber es ist nicht mehr zeitgemäß, und das Problem ist, dass die Leute es oft nicht anwenden können. Die meinen dann, weil eine Seite fünf Sekunden down war, hätten sie gewonnen, ohne dass sie ihre Message rübergebracht haben. DDoS ist ein Mittel, um auf etwas aufmerksam zu machen oder Leute zu ärgern, aber nicht die Lösung für Probleme. Uns verbindet mit diesem Kollektiv nach wie vor die Chankultur, und nur weil da draußen >9 000 Failer rumlaufen, die damit nichts mehr am Hut haben, legen wir die sicher nicht ab.