Rappen gegen die Gangster
»Carlos Emilio Torres Holguin« steht in dicken schwarzen Lettern auf dem weißen Zettel. Er ist an die schwarze Pappsilhouette eines Menschen geheftet. »Carlos Emilio Torres Holguin ist einer von insgesamt 92 Verschwundenen, denen unsere Recherchen einen Namen verliehen haben. Sie wurden von Namenlosen zu den Verschwundenen der Operación Orión, die 2002 mehrere Tage in der Comuna 13 wütete«, erklärt Adriana Arboleda. Die Frau von Mitte 40 ist Juristin der Corporación Juridica Libertad und hat gemeinsam mit zivilen Organisationen aus dem Bezirk Comuna 13 etliche dieser Schilder aufgestellt, um der Opfer der verheerenden Militäroperation zu gedenken. Vier Tage lang, vom 16. bis zum 19. Oktober 2002, dauerte die bisher größte urbane Militäroperation in der kolumbianischen Geschichte. Die Comuna 13 liegt am oberen Rand des Talkessels, der Medellín, die zweitgrößte Stadt Kolumbiens, umschließt. Die einfachen Backsteinbauten krallen sich förmlich in die Ausläufer der Berge. 1 500 Soldaten der vierten Brigade durchkämmten damals systematisch die verwinkelten, von Treppen durchzogenen Viertel. Es gab mehrere Tote und Verletzte und Hunderte Festnahmen.
Erklärtes Ziel der kolumbianischen Regierung war es damals, die linken Milizen, die in dem strategisch wichtigen Terrain operierten, zu vertreiben. »Die Comuna 13 ist ein Korridor, durch den Waffen, Drogen, aber auch andere Güter transportiert werden, und die Operación Orión war quasi der militärische Auftakt der Politik der demokratischen Sicherheit von Präsident Álvaro Uribe«, erklärt Adriana Arboleda. Die Politik der »demokratischen Sicherheit« hatte allerdings nicht nur eine beispielslose Militarisierung der kolumbianischen Gesellschaft zur Folge, sondern zeichnete sich auch durch eine systematische Kooperation der Regierung mit dem Paramilitarismus aus. Das haben Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen mehr als 60 Abgeordnete ergeben.
Mit den Menschen, die dieser Politik in der Comuna 13 zum Opfer gefallen sind, arbeitet Arboleda zusammen und hält dabei Kontakt mit den sozialen Organisationen in der Comuna 13. Das ist gar nicht so einfach, denn die Gegend ist auch zehn Jahre nach der umstrittenen Militäroperation umkämpft. Heutzutage sind es zwei paramilitärische Gruppen, die um die Vorherrschaft in dem strategisch günstig gelegenen, sich über zahlreiche Hügel erstreckenden Bezirk kämpfen. »Die Oficina de Envigado und die Urabeños bekriegen sich gegenseitig«, so Arboleda. Dazu rekrutieren die beiden Gruppen in der Comuna 13 Jugendliche und manchmal sogar Kinder.
Doch in den vergangenen Jahren haben Organisationen aus dem Bezirk versucht, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen. Eine davon ist das Kulturprojekt »Son Batá«, das von drei jungen Rappern gegründet wurde. Mit den Jugendlichen wollten sie Musik machen und zogen anfangs trommelnd durch die Straßen der 22 Stadtteile, die zur Comuma 13 gehören. Jeden Tag kommen Neuankömmlinge aus allen Landesteilen in den Bezirk. Viele Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Regionen, vor allem der Karibik- und der Pazifikküste, flohen vor dem Krieg der kolumbianischen Armee und paramilitärischer Gruppen gegen die Guerillaorganisationen. Auch die Familien der beiden Rapper Nene und Jaison stammen aus dem Chocó, der im Norden an Panama angrenzenden, von Wasserstraßen durchzogenen Regenwaldregion. Aufgewachsen sind beide in Nuevos Conquistadores, einem hoch am Rande des Talkessels um Medellín gelegenen Viertel. Insgesamt leben mehr als 120 000 Menschen in dem Bezirk, der die einst grünen Hügel wie ein Teppich aus Backsteinen, Wellblech und Holz überzieht. Nur über Treppen und Trampelpfade ist das Viertel zu erreichen, in dem das Projekt »Son Batá« seine Zentrale hat. Schon von weitem fällt das gelb, rot, grün und schwarz gestrichene Gebäude ins Auge. e»Son Batá« steht in leuchtenden Lettern unter dem rechten Fenster des Hauses, darunter etwas kleiner der Schriftzug »Mi Palenque«.
Palenques hießen die Wehrdörfer entlaufener Sklaven, die sich einst an der Karibik- und Pazifikküste Kolumbiens in großer Zahl fanden. »Heute sind diese Dörfer Orte, wo die afrokolumbianische Kultur gepflegt wird«, erklärt Jaison. Nicht von ungefähr haben die drei Rapper, die »Son Batá« 2005 aus der Taufe hoben, diesen Namen gewählt. Eine kulturelle Trutzburg soll das kleine Kulturzentrum sein, wo Gewalt nichts zu suchen hat. In dem Haus, von dessen kleiner Terrasse man einen großartigen Blick in das Tal von Medellín hat, können Kinder und Jugendliche Dinge lernen, zu denen sie zu Hause kaum mehr einen Zugang haben: Trommeln, Marimba spielen, in einer Chirimía-Kapelle mitmachen oder auf der Theaterbühne stehen. Jaison hat das Trommeln für sich entdeckt. »Die Musik setzt positive Energie in mir frei«, sagt der drahtige Jugendliche. Seit vier Jahren spielt er in einer Chirimía, dem klassischen Ensemble des Chocó, und mehrere seiner Kumpel aus Nuevos Conquistadores sind ebenfalls dabei. Regelmäßig gibt es Auftritte im Viertel und andernorts.
Darum kümmert sich Carlos Alberto Sánchez alias Nene. Der 26jährige ist einer der drei Gründer von »Son Batá«. Aus einem der weiter oben liegenden Häuser ist der stämmige Mann, der große glitzernde Ohrstecker trägt, nach unten geeilt, um den Proberaum zu öffnen. Dort stehen die Marimba, das hölzerne Xylophon, und die Trommeln, aber auch Klarinetten, Posaunen und Trompeten hängen an den Wänden des Musikraums, in dem täglich unterrichtet wird. 80 Kinder und Jugendliche sind es derzeit, die hier Unterricht bekommen. 150 lernen an zwei weiteren Standorten in der Comuna 13. Vor rund sieben Jahren begannen Nene, John Jaime Sánchez und Freddy Asprilla damit, das Kulturprojekt aufzubauen. Damals war die Operación Orión gerade drei Jahre her und Nene kann sich noch gut erinnern, wie die Kugeln durch die Straßen pfiffen. »Dort drüben starb ein Nachbar durch Querschläger, die die Holzbretter seiner Bude durchschlugen. Wir haben uns unter unsere Betten geschmissen, denn es wurde immer wieder geschossen«, sagt er.
Bei der Militäroperation wurden drei Zivilisten getötet, viele verletzt und rund 350 Menschen verhaftet, von denen letztlich nur acht verurteilt wurden. Der brutale Armeeeinsatz hat die drei Rapper geprägt. Gewalt lehnen sie ab, und sie haben es geschafft, sich aus den Bandenkriegen herauszuhalten, die in der Comuna 13 toben und meist Stellvertretercharakter haben. »Es geht um die Vorherrschaft in den Vierteln, um Routen und Macht, und wir wollen damit nichts zu tun haben«, erklärt Nene, den im Viertel alle kennen.
Damals begannen sie, den Kids beizubringen, auf Instrumenten zu spielen, zu tanzen, die eigene Kreativität zu entdecken. Mit Spenden vom Christlichen Verein Junger Menschen kauften sie Instrumente und fingen an, den Unterricht auf eine tragfähige Basis zu stellen. »Jede und jeder bei ›Son Batá‹ soll ein vernünftiges eigenes Instrument haben und darauf lernen«, erläutert Nene das Konzept. »Dem Krieg den Nachwuchs rauben«, fasst er ihr Ziel mit leuchtenden Augen zusammen. Damit sind die Drei ausgesprochen erfolgreich und haben landesweit Schlagzeilen gemacht. Im September 2010 organisierten Nene, John Jaime, Freddy und ihre Mitstreiter nicht nur ein Konzert für den Frieden in der Comuna 13, sondern machten auch in zahlreichen Schulen des Bezirks auf ihre Arbeit aufmerksam.
Dabei knüpfen sie an die eigene afrokolumbianische Kultur an. Nuevos Conquistadores ist vor allem ein schwarzes Viertel. »Die eigene Identität entdecken, lernen, wo die Wurzeln liegen und was die Kultur ausmacht, das ist die Basis, um Kinder und Jugendliche vor der Rekrutierung durch Banden und bewaffnete Akteure zu bewahren«, meint John Jaime. Schon früh werden Kinder von den kriminellen Banden gegen ein paar Pesos für Botendienste eingesetzt, später stehen sie Wache und irgendwann reihen sie sich dann ein in die große Zahl minderjähriger Kämpfer. Das ist Alltag in Kolumbien, wo die Jugendarbeitslosigkeit extrem hoch ist und die Zukunftsaussicht für viele Jugendliche alles andere als rosig. In der Comuna 13 ist die Situation noch prekärer, weil der Bezirk eine strategische Bedeutung für den Waffen- und Kokainschmuggel hat.
Mit der Förderung der eigenen Kultur wolle »Son Batá« dem vor allem nachts ausgetragenen Krieg etwas entgegensetzen, sagt John Jaime. Er ist für die künstlerische Konzeption verantwortlich und steht derzeit regelmäßig an den Reglern, um Songs von »Son Batá« im kleinen Studio über dem Kulturzentrum einzuspielen – den Soundtrack zum Ausstieg aus dem Kreislauf der Gewalt sozusagen. Dabei hat das Kulturprojekt in den vergangenen beiden Jahren viel Unterstützung bekommen. Seit dem Friedenskonzert vom 21. September 2010 mit Auftritten von bekannten Bands und Musikern wie Doctor Krápula und Juanes vor 10 000 Menschen ist es so bekannt, dass das Konzept auch beim Bürgermeister von Medellín und darüber hinaus auf Begeisterung gestoßen ist. Seit Ende 2010 wurde »Son Batá« von der Stadtverwaltung Medellíns, zahlreichen Botschaften und der Stiftung »Mi Sangre« des Sängers Juanes, die sich gegen Antipersonenminen einsetzt, unterstützt. Die Rapper hatten auch als Musikprojekt kommerziellen Erfolg und gingen Ende 2011 sogar auf Tour durch die USA. Nene und seine Kumpel waren sich fast schon sicher, es geschafft zu haben. Nene studierte Musik und Englisch und kam immer wieder in Kontakt mit den Großen des Musikbusiness. Im Sommer trat Chirimía, die Band von Son Batá, im Vorprogramm der Red Hot Chili Peppers in Bogotá auf.
Ein gutes halbes Jahr später hat sie die Realität der Comuna 13 wieder eingeholt. Das Konzert 2010 galt auch dem Gedenken an Andrés Medina. Der Musiklehrer und Koordinator von »Son Batá« wurde Anfang Juli 2010 von zwei Killern erschossen. Versehentlich, hieß es später. Er blieb nicht der einzige. »Keiner von den Rappern der Comuna 13 äußert sich derzeit. Sie wollen nicht einmal Anzeige erstatten, obwohl sie massiv bedroht werden«, sagt die Anwältin Arboleda. Sieben Rapper sind in den vergangenen 24 Monaten ermordet worden, der letzte von ihnen war bisher El Duke. Ein paar Tage nach dem Ende der Gedenktage anlässlich der Operación Orion, zu der immerhin ein paar internationale Gäste, aber nur eine einzige Botschaftsvertreterin – aus Frankreich – gekommen war, wurde er in der Comuna 13 erschossen. Am 31. Oktober fand der Trauergottesdienst zu Ehren des reimenden Aktivisten in der Kirche von El Salado, einem der Stadtviertel der Comuna 13, statt. Ob die Morde auf das Konto der paramilitärischen Gruppen gehen, weiß niemand genau. Aber es könnte sein, dass die kriminellen Banden schlicht signalisieren wollen, dass sie die Macht im Viertel haben und keine Aktivitäten der Zivilgesellschaft dulden.
Das vermuten viele, die mit der Bevölkerung in den marginalisierten Stadtteilen zusammenarbeiten. Zu ihnen gehört Enrique vom Jugendnetzwerk »Red Juvenil«, das in mehreren Vierteln Bildungsprojekte organisiert. Der Kriegsdienstverweigerer mit dem hüftlangen Haar glaubt, dass die paramilitärischen Gruppen eine Strategie der Einschüchterung und Demotivierung verfolgen. Diese Ansicht teilt auch Arboleda. Sie hat versucht, die Rapper dazu zu bewegen, Anzeige zu erstatten. Doch davon wollen sie nicht wissen, weil sie der Polizei schlicht nicht trauen. Sie haben sich zurückgezogen, gingen nicht mehr ans Mobiltelefon und schwiegen. Wie es weitergeht in der Comuna 13, steht derzeit in den Sternen. Immerhin hat Adriana Arboleda es geschafft, die Rapper zu einer Presserunde einzuladen, die in der Stadtverwaltung stattfinden soll. Doch was die bringen soll, weiß auch die Anwältin nicht so genau. Allein durch die »Besteuerung« von Bussen und Taxis verdienen die Paramilitärs etliche tausend US-Dollar pro Tag, eine kritische Zivilgesellschaft ist da nicht genehm. Was das für die zahlreichen Rap-Projekte im Stadtteil heißt, ist kaum abzusehen. So ist bisher keiner der Morde an den sieben Rappern, die seit 2010 erschossen wurden, aufgeklärt worden. Gleiches gilt für die Opfer der »Operación Oriòn«.