Der Roman »Homeless« von Brianna Karp

Gebildet, geduscht, wohnungslos

Kein Elternhaus, in dem man es aushalten könnte, kein regelmäßiges Einkommen, um eine eigene Unterkunft zu finanzieren: Brianna Karps Roman »Homeless« erzählt die Geschichte einer jungen Wohnungslosen.

Im Internet tobt eine Debatte darüber, was man der Autorin glauben kann und was nicht, aber die Frage nach der Authentizität ist fast schon irrelevant. Brianna Karps Buch »Homeless – Mein Weg zurück ins Leben« ist ausdrücklich als Roman deklariert, auch wenn die Autorin sagt, dass sie autobiographische Erfahrungen in die Erzählung habe einfließen lassen.
Sie ist erst 24 und hat es bis zur Manage­ment­assistentin gebracht. Im Zuge der Rezession aber verliert die in Orange County in Kalifornien lebende Frau erst ihren Job und dann auch ihre Wohnung und muss wieder ins Elternhaus ziehen. Weil sie mit ihrer psychisch labilen Mutter nicht auskommt, muss sie bald wieder fort. Brianna Karp zieht in einen alten Wohnwagen, den sie von ihrem Stiefvater geerbt hat, und campiert von nun an auf einem Walmart-Parkplatz.
Dort leben bereits rund 30 andere Wohnungslose, zumeist Menschen, die ehemals der Mittelschicht angehörten, in Folge der Rezession ins gesellschaftliche Abseits geraten sind und sich weder eine Wohnung noch ein Haus leisten können. Es sind Leute, die in einem früheren Leben als Arzt oder Lehrer tätig waren und fünf Fremdsprachen beherrschen. Nachts liegt Brianna Karp voller Angst wach in ihrem Wagen, ihre Tage verbringt sie bei Starbucks, wo man nur eine Tasse Kaffee konsumieren muss, dafür aber stundenlang herumhängen und im Internet surfen darf. Sie findet bald heraus, dass man in Fitness­studios kostenlos duschen kann, wenn man ein Probeabo abschließt. Nach einer Woche verabschiedet sie sich und testet das nächste Studio.
Brianna Karp teilt ihre Erfahrungen in ihrem Blog www.girlsguidetohomelessness.com mit und schildert ihre Versuche, ihren Alltag als Wohnungslose zu meistern und vor allem einen neuen Job zu bekommen. Ihr Blog bringt sie mit anderen Obdachlosen und Aktivisten in Kontakt, das verschafft ihr eine Art virtuellen Freundes- und Bekanntenkreis, mit dem sie ihre Sorgen teilen kann.
Der Rest des Romans ist eine trashige Liebesgeschichte, eine Abrechnung mit den Eltern, die zu den Zeugen Jehovas gehören. Es geht um sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung und eine Fehlgeburt. Das literarische Niveau entspricht ungefähr dem von Heftromanen im Stil von »Meine wahre Geschichte«. Dennoch wird hier eine Geschichte erzählt, wie sie sich tausendfach abspielt. Es geht um Menschen nicht nur in den USA, die ohne jegliche soziale Absicherung leben oder diese schon verloren haben; die in Zeltstädten wohnen, in der Garage eines Freundes, in Wohnwagen oder in ihren Autos. Wohnungslose, die dennoch gut angezogen sind und morgens frisch gewaschen an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, wo sie alles tun, um ihre wahre Situation zu verschleiern, weil sie sich schämen und die Schuld für ihre Lage bei sich selbst suchen.
Karp hangelt sich von einem Rausschmiss zum nächsten befristeten Job. Nicht zuletzt dank ihres Blogs wird sie Praktikantin bei der Frauenzeitschrift Elle und gibt zahlreiche Fernsehinterviews. Einen festen Wohnsitz hat sie aber noch immer nicht. Wenn man der Darstellung auf ihrem Blog glaubt, lebt sie mittlerweile befristet zur Untermiete, nachdem sie einige Monate lang in einem anderen gemieteten Wohnwagen untergekommen war. Die Geschäftsführung von Wal­mart hatte entgegen einer ersten Zusicherung die Wohnwagen dann doch räumen lassen. Inzwischen darf sie darauf hoffen, dass ihr Buch sich so gut verkauft, dass es dann doch mal für ein eigenes Haus reicht. In den USA kauft man Wohnungen und Häuser in der Regel, man mietet nicht, das heißt: Man leistet eine Anzahlung und nimmt einen Kredit auf. Während man den Kredit abstottert, darf man unter keinen Umständen arbeitslos werden.
Brianna Karp ist vorgeworfen worden, ihre Geschichte zu dramatisieren. Sie sei nicht wirklich obdachlos, immerhin habe sie ja den Wagen und immer wieder auch einen Job gehabt. Karp sieht das anders. Man muss nicht an der Straßenecke sitzen, betteln und schlecht riechen, um als wohnungslos zu gelten. Es reicht, kein Dach über dem Kopf zu haben und in ständiger Unsicherheit und Angst vor dem endgültigen Absturz zu leben. Es reicht, nicht zu wissen, wie man einen Alltag bewältigt, in dem man keine Toilette hat, nicht duschen und in keinen Kleiderschrank greifen kann, um frische Unterwäsche herauszuholen.
Nicht ganz unwichtig für alle, die sich abstrampeln, um wieder gesellschaftlich Fuß zu fassen, ist der eigene Wagen, die einzige Garantie dafür, einen potentiellen Arbeitsplatz zu erreichen. Allerdings haben Löhne und Gehälter ein solch niedriges Niveau erreicht, dass jeder Motorschaden, jede anstehende Reparatur eine Katastrophe darstellt. Das Geld reicht nur für Essen, nur für schlechtes Essen, denn ein schmackhaftes und gesundes Mahl kann man sich unter diesen Umständen auch nicht zubereiten. Wer Zähne verliert, eine Brille oder ein neues Auto braucht, wer krank wird, hat die letzte Chance verpasst, den Teufelskreis doch noch einmal zu durchbrechen.
Vieles von dem, was Karp schildert, ist dem amerikanischen Sozialsystem geschuldet, und anhand der Figur des untreuen und wortbrüchigen Liebhabers, eines Aktivisten der Obdachlosenbewegung, werden länderspezifische Unterschiede deutlich. Denn dieser lebt in Schottland, somit in Großbritannien, und hat Zugang zu einer Sozialwohnung und zu medizinischer Versorgung. Es gibt dort aufsuchende Sozialarbeit und regelmäßige Schecks vom Sozialamt.
Bei Karp hingegen schimmert immer etwas von dem amerikanischen Mythos der Alleinverantwortlichkeit durch. Das macht ihre Figur auch sympathisch, weil sie unverwüstlich erscheint und sich niemals als Opfer geriert, auch wenn sie mit den Zeugen Jehovas und der Männerwelt noch eine Rechnung offen hat.
Trotz dieser Unterschiede zwischen den USA und Europa und trotz der schlechten literarischen Qualität des Buches wird es in der englischsprachigen Welt bereits diskutiert, und es ist zu erwarten, dass es auch in Deutschland, wo man im Fall von Obdachlosigkeit einen entsprechenden Stempel in den Pass bekommt, auf großes Interesse stößt. Denn das Thema ist bisher selten behandelt worden. Günter Wallraffs Report »Unter Null« war eine rühmliche Ausnahme. Dabei steigt auch in Deutschland die Zahl der Obdachlosen stetig an. »Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland wird auf 300 000 geschätzt«, schreibt er in seiner Reportage aus dem Jahr 2009, »bis zu 30 000 Menschen leben auf der Straße, ohne in einer Statistik aufzutauchen.«
Wallraffs Bericht ist schockierend, das Buch von Brianna Karp liest sich in einem Rutsch durch und vermittelt trotz der Ernsthaftigkeit des Themas den Eindruck: »Das schafft sie schon!« Der Mira-Verlag, der auch Vampir- und Erotikromane veröffentlicht, hat ergänzend zur Buchveröffentlichung die Website www.homeless-online.de erstellt und listet dort die Adressen von Vereinen und Hilfsorganisationen auf, an die man sich im Fall von Obdachlosigkeit wenden kann. Das ist Teil einer Marketingstrategie, die an den meisten Betroffenen allerdings vorbeigehen dürfte. Das Thema aufgegriffen zu haben, ist aber durchaus ein Verdienst.

Brianna Karp: Homeless – Mein Weg zurück ins Leben. Mira-Verlag 2012, 384 Seiten, 12,99 Euro