Über den Begriff des »Halbstarken«

Verkommene Großstadtjugend

In den fünfziger Jahren entstand der missbilligende Begriff der »Halbstarken« für eine Generation junger Männer aus der Arbeiterklasse, die gegen die spießige Bürgergesellschaft rebellierten.

ugend« ist eine romantische Erfindung. Im Ausgang des 19. Jahrhunderts entstand sie innerhalb des Jugendstils und der Jugendbewegung. Die »Halbstarken« bezeichnen dazu gleichsam eine Gegentendenz: Jede Romantik, jedes romantische Weltverhältnis, jede Idee der Rettung, Reform und Revolution der Gesellschaft fehlt ihnen. Erst in der Sensation, den journalistischen Reportagen und schließlich den Stilisierungen in den Filmen der fünfziger Jahre werden die Halbstarken als Jugendkultur romantisiert. Mit dem Song »Halbstark« machte die, wie man damals so sagte, Beatgruppe The Yankees 1965 den Begriff endgültig berühmt – allerdings waren Halbstarke damals schon fast nur noch eine Chimäre der Ordnungshüter; die Jugendlichen waren längst dabei, sich in realexistierende Jugendkulturen aufzulösen: Rocker, Teds, Mods etc.

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Nicht unwahrscheinlich, dass die Rede vom Halbstarken aus Hamburg kommt. Der Hamburger Richter Hermann Popert soll 1905 zum ersten Mal das Wort in seinem Roman »Helmut Harringa« benutzt haben. Der Hamburger Pastor Clemens Schultz machte die Halbstarken schließlich mit seiner gleichnamigen Broschüre 1912 bekannt: Der ›Halbstarke‹ soll der junge Mann im Alter von 15–22 Jahren sein, der zur verkommenen Großstadtjugend gehört (… ). Der ›Halbstarke‹ ist der ›verkommene‹ junge Mensch. ›Verkommen‹ ist ein gut illustrierendes Wort. Verkommen heißt falsch kommen; der Verkommene ist falsch in das Leben hineingekommen; er ist auf den falschen Weg geraten, und wohin ihn dieser Weg auch führt, er bringt ihn immer an ein falsches Ziel; so ist der Halbstarke auch fähig (…), das Falsche, das Unrechte zu tun, wenn er überhaupt etwas tut.
An den Pastor Clemens Schultz (1862–1914) erinnert noch heute eine Straße im Stadtteil St.  Pauli: Sie verläuft parallel zur Reeperbahn, umgrenzt das Vergnügungsviertel, den hier so genannten Kiez. Hier wirkte Clemens Schultz um 19. Jahrhundert als protestantischer Seelsorger.
Schon damals war hier das Vergnügungsviertel: Vor den Toren Hamburgs – die Parkfläche der Wallanlagen markiert die Reste der alten Stadtgrenze – galten damals andere Rechte, Prostitution und Glücksspiel hatten hier schon früher ihr florierendes Geschäft, Straßen wie »Große Freiheit« und »Kleine Freiheit« erinnern noch immer daran. Zum Süden hin wird St. Pauli durch die Landungsbrücken begrenzt: Hier ist der Hamburger Hafen, das Tor zur Welt. Der Imperialismus des deutschen Kaiserreichs bringt über den Seeweg viele exotische Attraktionen nach Hamburg; von hier aus lässt sich die Welt bereisen oder erobern – je nachdem. Viele junge Männer versuchen, auf den Schiffen als Seeleute anzuheuern, oder bleiben in den Kneipen hängen. Zugleich ist der Hafen eine Indus­trie; hier formiert sich die Arbeiterbewegung, 1896 gibt es einen großen Streik.
Eine Atmosphäre von Gewalt grundiert das soziale Elend, das hier zu Hause ist. Noch bis in die neunziger Jahre rangierte in einigen Statistiken St. Pauli als ärmster Stadtteil Europas. Die sozialen Verhältnisse auf St. Pauli sind beispielhaft für das, was Michel Foucault in »Überwachen und Strafen« notierte: dass es Übergänge im sozialen Zusammenspiel von Polizei und Delinquenz gibt und der Kriminelle sich auch zur Bekämpfung von seinesgleichen im Staat nützlich machen kann und umgekehrt. Soziale Ordnung hat in solchen Gegenden, gerade wo die ordnenden Normen (die nicht unbedingt die etablierten, offiziell akzeptierten und legitimierten sein müssen) sich nur mit äußerster Bruta­lität durchsetzen lassen, viel mit einer Politik der Integration und Desintegration zu tun (»Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!«), aber auch mit Kontrolle und Duldung.
Das ist das Milieu, in dem Clemens Schultz um 1900 als Pastor arbeitet und seine Beobachtungen macht, die er in seinem Bericht »Die Halbstarken« 1912 dokumentiert.
Der Halbstarke ist der klar bewusste Feind der Ordnung, d. h. der Gesellschaft, der Konvention, des sozialen Lebens, des Gesetzes; seine Arbeitsscheu ist zum Hass gegen die Arbeit geworden, er ist völlig unfähig geworden, irgendwelche regelmäßige Arbeit zu tun, er ist beseelt vom bösen Willen. Manchmal kommen noch Phrasen von Anarchismus usw. hinzu; aber im Großen und Ganzen gibt er sich mit solchen Dingen kaum noch ab. Er hält es nicht für nötig, sein Leben und sein Tun vor anderen und vor sich selbst auch nur im Geringsten zu beschönigen, heißt es in dem Text.
Diese Halbstarken, die aus allen Kreisen der menschlichen Gesellschaft kommen, bilden den Mob, sind eine furchtbare, grauenerregende Macht, zumal im großstädtischen Leben, schreibt der Pfarrer. Sie mischen mit, wenn es in der Stadt zum Aufruhr kommt, bei Revolution, Generalstreik und »politischer Erregung« sind sie dabei. Die Halbstarken können aber auch anders: Der Anblick dieser Menschen ist grauenerregend, zumal wenn sie sich mit einer schäbigen Eleganz kleiden und den feinen Herrn spielen.
Sexuell sind diese Leute fast alle pervers, natürlich mit furchtbaren venerischen Krankheiten behaftet, weiß der Pfarrer. Eigentlich ist der Halbstarke verloren: Ihm ist nicht mehr zu helfen. Er ist geistig, sittlich und körperlich degeneriert, vor allen Dingen ist sein Wille völlig abgefault; selbst wenn er wollte, kann er doch nicht mehr wollen, er geht rettungslos zugrunde.
Das Schicksal der Halbstarken ist, wenn es nicht die lebenslange Zuchthausstrafe ist, der Tod. Pastor Schultz kümmert sich um die Halbstarken auch noch an ihrem Sterbebett; er berichtet von einem Fall im Hamburger Hafenkrankenhaus, ein 23jähriger, der abgemagert und fiebrig um Vergebung bat. Dann starb er. Und das leere Bett erhob eine so schwere Anklage gegen – unsere Gesellschaft, gegen unsere heutigen Verhältnisse, gegen unser Leben. Musste das sein? Musste dieser unglückliche Mensch zugrunde gehen? Haben wir nicht Teil an der sozialen Schuld?
Dieser Schuld versucht Pastor Schultz mit Liebe, christlicher Nächstenliebe, zu begegnen. Wie dankbar ist aber jene Jugend, wenn ihr Liebe entgegengebracht wird, sie merkt intuitiv heraus, ob sie ein Gegenstand der Verachtung, der Neugierde, des Pharisäismus ist, oder ob sie bei allem Ernst der Behandlung, bei aller konsequenten Strenge geliebt wird.
Die Liebe bildet gleichsam den Kitt für das Programm aus Jugendarbeit und Jugendpsychologie.
Keine Jugendarbeit ohne Jugendpsychologie. Es machen sich in unseren Tagen so viele Kreise an die Jugend heran, dass diese, im Kreuzfeuer der Parteien stehend, einem leid tun kann. Was sie braucht, muss aus ihrem Wesen heraus festgestellt werden. Wie ihr zu helfen ist, darüber entscheiden zwar nicht ihre subjektiven Wünsche, wohl aber ihre objektiven Bedürfnisse, und nicht der Geschmack und die Interessen herrschender Richtungen. Die Jugendarbeit wie das ganz allgemein erwachte Interesse an der Jugend bedarf dringend der inneren Vertiefung, formuliert der Verlag von Paul Eger in Leipzig in einer Eigenwerbung auf der Rückseite der Broschüre.
»Die Halbstarken« erschien in der Verlagsreihe »Die Entwicklungsjahre. Psychologische Stu­dien über die Jugend zwischen 14 u. 25«, wiederum von zwei Pastoren herausgegeben. In der Reihe finden sich auch Veröffentlichungen wie »Die weibliche Dorfjugend«, »Der Soldat«, »Der Lehrling in Fabrik und Handwerk«, »Das Schwärmen der jungen Mädchen«, »Der Student«. Bekannt wurde nur Schultz’ Broschüre »Die Halbstarken«.
Im Sinne christlicher Sozialarbeit, die in Hamburg durch das Wirken Johann Heinrich Wicherns eine lange Tradition hat – die sogenannte Innere Mission –, bringt Schultz den Halbstarken zwar kein Verständnis entgegen, so doch aber Mitgefühl; beinahe soziologisch liest sich seine »Naturgeschichte der Halbstarken«, die den Hauptteil der schmalen Broschüre bildet. Schultz untersucht hier die unterschiedlichsten Dispo­sitionen, die den jungen Menschen prägen: Elternhaus, Schule, Konfirmationsunterricht. Zwar gebe es »erbliche Belastungen«, doch die »Verkommenheit« der Halbstarken – das betont Schultz immer wieder –, sei an sich »nicht vererbbar«. So spielt das soziale Milieu eine Rolle, auch »Kinomatographentheater«, »Schund­literatur« gelten als Auslöser für die Entwicklung des Kindes zum Halbstarken.

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Schultz’ Broschüre muss im Kontext einer Zeit gelesen werden, für die Georg Simmel im selben Jahr die Formel einer »Tragödie der Kultur« prägte: ein Fortschritt der Kultur, dem der Einzelne nicht mehr folgen kann, also eine »beliebige Vermehrbarkeit der Inhalte des objektiven Geistes«, die der »subjektive Geist« nicht mehr zu einer Einheit zu synthetisieren vermag. Was Simmel diagnostiziert, beleuchtet theoretisch im Ganzen, was das Phänomen der sogenannten Halbstarken im engen Horizont des Großstadt­lebens widerspiegelt. Schultz sieht Jugend gleichsam als Opfer dieser Tragödie und widerspricht damit etwa den reformpädagogischen Bewegungen: Walter Benjamin proklamierte damals ein »Zeitalter der Jugend«, und sein damaliger Lehrer Gustav Wynecken spricht das erste Mal – emphatisch – von »Jugendkulturen«; die Halbstarken waren damit nicht gemeint.
Das ändert sich mit den fünfziger Jahren: »Jugendkultur entwickelte sich zu einem Investitionsschwerpunkt der Kulturindustrie«. Konsum wurde zum »wichtigsten Identifikationserlebnis«, schreibt Walter Grasskamp, »So etablierte sich ein transatlantischer Jugendmarkt, der sich eine Zeit lang mit einer Protestbewegung überschneiden konnte, weil der symbolische Widerstand gegen die Erwachsenenwelt bereits zum Konsumversprechen auch der unpolitischen Waren gezählt hatte.« Die Halbstarken gehören jetzt mit dazu.
Mehr und mehr werden die Halbstarken zur Sensation, zum Spektakel – im Sinne der Repräsentation oder Vorstellung, die sich die Leute von den Jugendlichen machen. Und in dieser Repräsentation werden die Halbstarken nützlich und unnütz zugleich, agieren konformistisch und nonkonformistisch, werden als unkontrollierbar in einer Gesellschaft wahrgenommen, die ihre konstitutiven Regeln immer mehr in eine vermeintlich gebotene Selbstkontrolle der Subjekte verlagert. Anders gesagt: Die Halbstarken sind auch insofern innerhalb der sozialen Verhältnisse halbstark, weil sie die sozialen Anforderungen nur zur Hälfte erfüllen. Sie verweigern sich dem Leistungsregime in Hinblick auf die Arbeit, entziehen sich dem Konkurrenzprinzip, während sie gleichzeitig – als je individuelle Personifikation der »Jugend« an sich – zu Idealkonsumenten avancieren und sozusagen auf dieser Seite der Gesellschaft, der affluent society, als Kunden des Warensystems ihr Leistungssoll voll und ganz erfüllen.
»Was tun die sogenannten Halbstarken eigentlich?« fragt Hans Heinrich Muchow 1959. Und erklärt: »Sie belästigen oder beschimpfen Passanten, und zwar tun sie das um so heftiger und anhaltender, je schulmeisterlicher diese sich zur Wehr setzen.«
Die Halbstarken kreieren sich ihre Rolle selbst, übernehmen nicht oder nur mit Widerwillen die Rollen, auf die die Gesellschaft sie gerne verpflichtet sähe: die braven jungen Leute, die mehr aus ihrem Leben machen als nur Herumhängen, die das Wirtschaftswunder nutzen, um Familien zu gründen und das Bruttosozialprodukt zu steigern.
Die Rolle, die sie erfinden, ist die des Individuums selbst. Als Halbstarke folgen sie dem Schematismus der Delinquenz, der Zuschreibung des Verbrechertypen. Doch sie wollen ja gar keinen Ärger machen, sondern einfach nur ihr Ding; sie folgen dem bürgerlichen Genussideal, ohne viel Mühe möglichst viel Reichtum anzuhäufen. Gesellschaftlich hat das keine Per­spektive. Aber die Gesellschaft ist ihnen ohnehin egal. Muchow schreibt: »Man will nur einmal sehen, ›was dann passiert‹ bzw. ob sich überhaupt jemand darum kümmert.«

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»Die Mehrheit der Jugend hat mit der Erscheinung der Halbstarken nichts zu tun. Die Minderheit aber fällt auf, und deshalb spricht man von ihr«, heißt es am Anfang von Georg Tresslers Film »Die Halbstarken« (BRD 1956). Der Film versteht sich als »Warnung für alle junge Menschen, die in Gefahr sind, auf Abwege zu geraten«.
Freddy Borchert, der von Horst Buchholz gespielt wird, ist auf die schiefe Bahn geraten. Seinen Bruder Jan zieht er auch noch mit hinein. Im Stadtbad provozieren sie, verprügeln grundlos den Bademeister. Anders als Schultz die Halbstarken in ihrem Treiben beschreibt, sind hier nun allerdings die Ziele und Wünsche bestimmter: Sie wollen das große Geld, das gute Leben, den Straßenkreuzer. Nur arbeiten wollen sie nicht, jedenfalls nicht lohnarbeiten mit geregeltem Alltag. Eine Frau empört sich: »Unerhört so was, wie die Bengels heute auftreten! Is’ ja allerhand!«
Mit der Gesellschaft wollen die Halbstarken nichts zu tun haben. Sie machen sich ihre eigene Gesellschaft, die allerdings kaum anders funktioniert als die der herrschenden Ordnung. Als einer von Freddys Kumpanen sich nicht fügen will, poliert er ihm kurzerhand die Fresse. Zu seinem Bruder Jan sagt er: »Das ist Pädagogik: Wenn Du ihm nicht auf den Kopf trittst, tritt er dir irgendwann auf den Kopf!«
Clemens Schultz hat den Halbstarken noch im Singular beschrieben. In den fünfziger Jahren gibt es die Halbstarken nur als Kollektiv, obwohl sie je für sich den Individualismus antizipieren, der erst in den siebziger und achtziger Jahren zum allgemeinen Sozialcharakter werden soll.