Kein Kinderkram

»Hexengewisper« heißt der kleine, bemerkenswert unterhaltsame Essay. Der Literaturwissenschaftler Michael Maar steigt darin hinab in die geheimen Subtexte der Märchenwelt. Die großen Volksmärchen, sagt Maar, nein, wir haben sie nicht unbedingt parat. Doch schlummern sie in uns allen und können leicht geweckt werden. Was Märchen sind, weiß anscheinend keiner so genau. Woher sie kommen? Aus dem »Frühnebel der Zeiten«. »Schon im ältesten literarischen Dokument der Menschheit, dem Epos um den König Gilgamesch«, gibt es allerhand Märchenmotive. »Der Amazonas-Stamm, der keine hätte, ist noch nicht entdeckt.«
Dass der Ursprung der Märchen ungewiss ist, stört den Literaturwissenschaftler nicht besonders. Mit lakonischem Witz und großer Lust am Entdecken und Enträtseln dieser eigentümlichen Erzählungen widmet er sich dem verstörenden Gewaltpotential von Märchen: Die Bösen kriegen immer ihr Fett weg, gerne auch in siedend heißer Form. Von der Forscher-These, dass die Grimmsche Märchensammlung nicht zuletzt eine Art Erinnerungsspeicher für die Traumata des Dreißigjährigen Krieges sei, hält auch Maar einiges.
Man muss zweifellos genau hinschauen. Tut man es, entdeckt man zahlreiche trojanische Pferde: Subtexte, die von nicht ausgelebter Homosexualität handeln; menschenfressende Hexen, die, symbolisch verschoben, das Kannibalismustabu thematisieren. Märchen sind alles Mögliche – »Kinderkram« sind sie nicht.

Michael Maar: Hexengewisper. Berenberg-Verlag, Berlin 2012, 80 Seiten, 20 Euro