Nashville, die Hauptstadt der Country-Musik

Way Out Here

Nashville, im US-Bundesstaat Tennessee, ist seit den fünfziger Jahren bekannt als »Music City, USA«. Ein Reisebericht und ein Versuch, das Phänomen des Country zu enträtseln.

»Our houses are protected by the Good Lord and a gun, and you might meet ’em both if you show up here not welcome, son«, ertönt die Stimme von Josh Thompson aus dem Radio. Auf dem endlos langen Highway zwischen dem mächtigen Mississippi River und den Great Smoky Mountains, welche jeweils die West- und Ostgrenzen von Tennessee bilden, scheint man prinzipiell nur zwei Sorten von Sendern empfangen zu können. Auf den einen bequasseln einen irre fundamentalistische Christen mit mäandernden Predigten, auf den anderen läuft ausschließlich Country-Musik. Letztere, definitiv das kleinere Übel, wiederholen in hypnotischen Intervallen die jeweiligen Saison-Hits.
Memphis, dessen Sun Records Company sich stolz als der Ort, »wo Rock’n’Roll geboren wurde«, bezeichnet, wirkt so, als hätte es seine besten Zeiten bereits gesehen. Die Innenstadt ist leer und verlassen, das szenige Vergnügungsviertel künstlich und touristisch. Sehenswert ist wirklich nur das Bürgerrechtsmuseum, ein beeindruckender Komplex, bestehend aus dem Lorraine Motel, vor dem Martin Luther King am 4. April 1968 ermordet wurde, einem Museumsanbau und dem Haus, von dem aus die tödlichen Schüsse abgefeuert wurden. Rock’n’Roll scheint jedenfalls in Memphis heute so tot zu sein wie Martin Luther King oder jener andere King, der hier auf dem Grundstück seiner Graceland-Villa die Radieschen von unten bewundert, falls ihn nicht doch irgendwelche Aliens entführt haben.

Ganz anders hingegen Nashville, das Mekka der Country-Liebhaber, mit seiner pulsierenden und vibrierenden Musikszene. Auf keinem Road Trip durch den Süden der Vereinigten Staaten darf diese Etappe ausgelassen werden. Der Stadtkern ist umgeben von einem sechs- bis achtspurigen Autobahnring, von dem aus letztlich jede Straße irgendwann zu jener breiten Verkehrsachse führt, die sich einmal quer durch den Stadtkern zieht und »Broadway« heißt. Vom Broadway schlägt auch der sanfte aber kräftige Puls einer Stadt, in deren Ballungsraum knapp 1,7 Millionen Menschen unterschiedlichster Herkunft leben. Tagsüber kann man sich hier in Billy Joe’s Tattoo-Studio die ganze Palette von Biker- und Outlaw-Motiven in die Haut stechen lassen. In den anliegenden Läden wird abwechselnd entweder das komplette Sortiment von Cowboystiefeln, -hüten, Bluejeans und wildledernen Fransenjacken oder alle nur erdenklichen Arten von Gitarren, Akustikgitarren, E-Gitarren, Gitarren mit doppeltem Gitarrenhals in allen möglichen Farben, aber auch klassisch schlicht und schwarz zum Verkauf angeboten. Beliebt sind auch Souvenirläden. Dazwischen kann man sich in allerlei Bars und Clubs Alkohol einschenken lassen.
Fast den ganzen Tag lang wird Live-Musik gespielt. Überhaupt scheint es hier am Wochenende so viele Musiker wie schlichte Flaneure zu geben. Die Stadt ist so voll mit aspirierenden Country-Stars, dass man sie nicht einmal im hier praktizierten fließbandmäßigen Akkord auf sämtlichen Bühnen entlang des Broadways unterbringen kann, weshalb sie dann auch an jeder Straßenecke stehen, lauthals singen und ihre Gitarren schrubben. Zwei Teenager, die aussehen, als könnten sie die nahe gelegene Hume-Fogg Academic Magnet High School besuchen, haben sogar ein Schlagzeug dazu aufgebaut und spielen einen etwas rockigeren Bluegrass.

So richtig los geht die Party aber erst, wenn es dunkel wird. Die Menschenmengen auf der Strasse sind dichter gedrängt und wirken inzwischen auch deutlich alkoholisierter. Die Familien mit Kindern, die tagsüber noch das Straßenbild beherrschten, sind verschwunden. Dafür sind sehr viel mehr stiernackige Footballspielertypen unterwegs. Rocker in Lederkutten fahren ihre Harley Davidsons vor und dicke Stretchlimousinen, in denen vermutlich irgendwelche steinreichen wichtigen Musikproduzenten sitzen, fahren statusbewusst langsam die Straße auf und ab. Vielleicht sind es auch nur College-Kids mit reichen Eltern, die sich so eine Karre für ein paar Stunden gemietet haben, um sich am Broadway absetzen zu lassen und einen Auftritt wie ein Star zu haben.
In den Bars haben längst die weniger bekannten Nachwuchstalente für die angesagten Acts die Bühne geräumt. Als der beste Laden erweist sich eine eher unauffällige kleine Bar mit dem Namen »Layla’s Bluegrass Inn«. Zunächst tritt dort eine unglaublich schnelle »Speed-Billie«-Formation auf, also Hillbillie-Musik auf Speed. Ihr hektischer Frontmann mit den fettigen, schulterlangen blonden Haaren singt nicht nur und spielt gleichzeitig auf einem kleinen Western-Piano, sondern führt dabei noch allerlei akrobatische Kunststücke auf. Er springt auf seinem Klavier herum und traktiert die Tasten dabei aus den unmöglichsten Positionen, erst mit den Händen dann mit seinen in Cowboystiefeln steckenden Füßen. Zuletzt verbindet er sich sogar mit seinem Stirnband die Augen und spielt blind, rückwärts auf seinem Klavier sitzend. Die Zuschauer sind in bester Stimmung, aber Zugaben lässt der streng dreinblickende Manager von Layla’s Bluegrass Inn nicht zu. »No exceptions«, auch nicht für Klavier spielende Akrobaten mit verbundenen Augen. Als nächstes tritt dann nach einer atemberaubend kurzen Umbauphase eine wesentlich langsamere Band auf. Ihre etwas punkig-hippiemäßige Leadsängerin im pinkfarbenen Top spielt zwar eher mäßig Gitarre und macht keine Tricks, aber dafür hat sie eine viel schönere Stimme als der zappelige Pianoakrobat. Sie singt von zerstörten Beziehungen und der großen Liebe, während sie verträumt in die Ferne schaut. Dazu trägt sie natürlich die obligatorischen Cowboystiefel, die so authentisch abgetragen sind, dass einer davon vorne mit grauem Gafferband umwickelt werden musste. So viel Outlaw-Glamour, das Publikum scheint es zu mögen.
Auf der anderen Straßenseite sitzen die beiden Schuljungen mit dem Schlagzeug und der Rock­gitarre auf der Treppe des inzwischen geschlossenen Tattoo-Studios. Sie haben aufgehört zu spielen und träumen nun davon, endlich auch von einem der Musikproduzenten in seine Limo gebeten zu werden, ganz groß rauszukommen und auf der Bühne der »Grand Ole Opry« aufzutreten. »Das wäre mein Traum«, sagt Jessie, der Schlagzeuger, »auf der selben Bühne zu spielen wie Elvis«. Die Grand Ole Opry ist eine weitere Legende in Nashville, eine live im Radio und Fernsehen übertragene Bühnenshow, die seit 1974 im Grand Ole Opry House aufgeführt wird, aber eigentlich aus der wöchentlichen Country-Radiosendung »Barn Dance« aus dem Jahre 1925 stammt. Längst kann man die Show auch im Internet verfolgen. Ein Erstauftritt in der Grand Ole Opry ist in der Country-Szene so etwas wie der Ritterschlag. Wobei ja eigentlich gerade der wahlweise in Memphis radieschenguckende oder von Aliens entführte Elvis Presley bei seinem einzigen Grand-Opry-Auftritt am 2. Oktober 1954 eine ziemliche Abfuhr kassierte.
Der damalige Opry-Manager Jim Denny, dem Elvis’ anstößige Hüftbewegungen und die innovative Fusion seiner Musik mit dem »schwarzen« Rhythm and Blues offenbar gar nicht behagten, empfahl ihm, er solle »nach Memphis zurückkehren und wieder LKW fahren« und sich am besten nie wieder blicken lassen. Heute ist aber auch die Grand Ole Opry deutlich innovationsfreundlicher geworden. Hätten sich dort nicht doch neue Trends gegen die Puristen und Traditionalisten durchgesetzt, wäre sie vermutlich längst Geschichte.
Die höchste Auszeichnung, die einem im Country-Musik-Business als Musiker, Songwriter oder Produzent widerfahren kann, besteht aber in der Ehrung in Nashvilles Country Music Hall of Fame, in der seit 1961 die jährliche Apotheose ins Pantheon der Country-Göttinnen und -Götter stattfindet. Zu den so geehrten zählen unter anderen Jonny Cash, Loretta Lynn und Willie Nelson.

Seit 2001 findet die Ehrung in einem gigantischen Neubau etwas südlich des Broadways statt, dem neben der Hall of Fame auch ein Museum und ein Archiv angeschlossen sind. Das Ganze hört dann auf den holperigen Namen »Country Music Hall of Fame and Museum«. Die Hall of Fame lohnt sich natürlich nicht zu sehen, wie alle Popkulturtempel, die sich so nennen, aber das Museum ist dafür der Knaller.
Eine Unzahl von Glasvitrinen enthalten allerlei Memorabilien, darunter eine Gitarre von Jonny Cash, Briefe, Kleidungsstücke und ziemlich viele Dinge, die vermutlich nur von richtigen Hardcore-Country-Fans geschätzt oder in ihrer Bedeutung erkannt werden können. Umso beeindruckender in ihrer ganzen protzigen Kitschigkeit sind hingegen die zwei auf dem obersten Stockwerk ausgestellten leuchtend schneeweißen Cadillacs von Elvis Presley und Webb Pierce. Elvis’ Auto ist innen vergoldet und hat auf dem Rücksitz ein altmodisches Telefon, vergoldet, aber mit Kabel und Wählscheibe. Wie das damals wohl funktioniert hat? Wirklich verrückt und verdammt Country ist Pierces Cabriolet, das »Silver Dollar Car«, so genannt, weil die Sitze mit echten Silberdollars besetzt sind. Dabei ist das noch nicht einmal das Aufregendste. Am Heck ist eine silberne Kopie einer Schrotflinte in Originalgröße angebracht und an den Türen innen silberne Revolver in Halftern, so als könne man damit beim Warten an der Ampel lästige Fußgänger abknallen. Die Gangschaltung wird mit dem Knauf eines Pferdesattels bedient, während die Pedale von Kupplung und Bremse Hufeisen gleichen.
Das größte Juwel ist aber der kleine Filmraum, in dem offenbar in einer Endlosschleife Dokumentarfilme zur Geschichte der Country-Musik gezeigt werden. Fasziniert betrachte ich den vermutlich fünften Kurzfilm in Folge, als mir eine hispanisch aussehende Frau in Putzkraftuniform freundlich erklärt: »Wir schließen übrigens in drei Minuten.« Verdammt, ich werde nie die ganze Geschichte des Krachs zwischen Country-Sängerin Tammy Wynette und Hillary Clinton von 1998 erfahren, irgendwas über Wynettes Song »Stand By Your Man« und Clintons Verhältnis zu ihrem Ehemann, der damals politisch wegen der Affäre um Monica Lewinsky schwer in Bedrängnis geraten war. Auf die Beteuerung ihres Ehemannes, er habe keinen Sex mit der damaligen Praktikantin im Weißen Haus gehabt, angesprochen, sagte Hillary Clinton, sie nehme ihm das ab und sie sei schließlich nicht der »Tammy-Wynette-Typ«. Damit meinte sie das stereotype unemanzipierte und weltfremde Landei. Wynette fühlte sich sehr missverstanden, immerhin mache Hillary Clinton doch genau dasselbe wie sie in ihrem Song – »zu ihrem Mann stehen« –, auch dann, wenn er einmal der charakteristischen Schwäche seines Geschlechts erliege. Die beiden Alphamädchen werden sich schon irgendwo medienwirksam versöhnt haben, vermute ich, während ich grübelnd das Gebäude verlasse.
»Komisches Genre, der Country«, denke ich mir, während ich auf der Wiese vor Nashvilles Parthenon sitze. Ganz recht, »Parthenon«. Etwas östlich des Stadtkerns, im Centennial Park wurde 1931 eine detailgetreue Betonkopie des Athener Parthenon in voller Größe fertiggestellt, der auch nicht so kaputt ist wie das Original in Griechenland, aber das nur nebenbei. Ich verspeise einen so genanten snowball, der aus mit buntem Sirup übergossenem Eis besteht und in kleinen Pappkegeln ähnlich einer Eiswaffel serviert wird. Und während ich vom Sirup eine ganz blaue Zunge bekomme, versuche ich das Phänomen »Country« zu enträtseln. Einerseits erscheint diese Musikart auf die schmierigste Art und Weise brav und wertkonservativ, andererseits gibt es auch eine ehrliche, rebellische Komponente. Diese ist irgendwo zwischen einem christlich inspirierten Humanismus und einem tendenziell reaktionären Proletenkult angesiedelt. Es ist ein Rebellentum mit Herz für die Verlierer, nicht zuletzt, weil ab 1861 die Südstaaten erst die rebels und dann die Verlierer waren im Krieg um die Sklaverei, die sie ja gerne fortgeführt hätten. Entsprechend wird Country bis heute als »weiße« Musik wahrgenommen – von Weißen für Weiße.
Das Ganze wird dann häufig wieder durch eine subtile Form von »sich selbst nicht immer so furchtbar ernst nehmen« unterlaufen, indem sämtliche kitschigen Klischees so dick aufgetragen werden, dass man es irgendwie wieder witzig finden muss. Songs wie »Way Out Here« von Thompson mögen, wenn auch nicht ohne eine deutliche Spur sanfter Ironie, den Hillbillie-Lifestyle bibel­treuer, waffenstarrender Rednecks glorifizieren, die in heruntergekommenen, von rostenden Pickups umlagerten Anwesen hinter einem Kornfeld leben. Aber die Stadt, in der solche Songs produziert werden, hat ein für den Süden durchaus liberales Flair, mit viel Kunst und sogar der landes­typischen Alternativkultur mit ihren kleinen Hang-Outs und Plattenläden. Seit der Zeit des Wiederaufbaus nach dem amerikanischen Bürgerkrieg wählt Nashville konsequent demokratisch. Was wiederum nicht bedeutet, dass die Stadt deshalb schon immer liberal war, denn derzeit waren die Demokraten noch die Partei enteigneter Sklavenhalter. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden die Demokraten zunehmend die Partei der Staatsinterventionisten und später der Bürgerrechtler. Und das alles ist Country – so eingängig, ambivalent und liebenswert wie die Stadt, die das Genre geschaffen und geprägt hat.