Ringen soll nicht mehr olympisch sein

Aus der Zeit gefallen

Ringen soll nicht mehr olympisch sein – der Protest gegen die Entscheidung des IOC eint sogar die USA und den Iran.

Beim Laufen, Ringen und beim Werfen … «, heißt es so schön und vor allem salbungsvoll in der zweiten Strophe der olympischen Hymne. Die kam dem Präsidenten des griechischen Ringerverbandes, Kostas Thanos, gleich wieder in den Sinn, als er wie viele Sportfans auch in der vergangenen Woche von einer Nachricht überrascht wurde, mit der kaum jemand gerechnet hatte. »Aus heiterem Himmel«, so Thanos, sei seine Sportart von den 15 Mitgliedern der Exekutivkomission des Internationalen Olympischen Komitees aus dem olympischen Programm geworfen worden. Bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro 2016 darf beim »Schach auf der Matte«, wie die Ringer ihre Sportart selbstbewusst charakterisieren, noch einmal um olympische Medaillen gerungen werden. Danach ist wohl Schluss. Die Empfehlung der Exekutivkommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) muss von der IOC-Vollversammlung im September in Buenos Aires zwar noch bestätigt werden. Doch gilt dies nur noch als reine Formsache.
Die Aufregung, auch und gerade in der medialen Öffentlichkeit, ist riesengroß. Selten hat man so viel und vor allem so viel Gutes über diese ein wenig seltsam anmutende Sportart gelesen, gehört und gesehen wie nach der IOC-Entscheidung in der vorigen Woche. Große Zeitungen und mächtige TV-Sender, die sich jahrzehntelang vehement und erfolgreich gegen eine Ringerberichterstattung zu wehren wussten, singen plötzlich das sportliche Hohelied auf das Ringen – eine Sportart wohlgemerkt, der sie jahrzehntelang keine einzige Zeile, Tabelle oder Sendeminute einräumten. Redaktionsleiter entrüsten sich jetzt moralisch und in episch langen Betroffenheitskommentaren gegenüber dem IOC und seinen Entscheidern wegen des Rauswurf der Ringer. Und blenden damit, bewusst oder unbewusst, ihr eigenes Glaubwürdigkeitsproblem aus. Eigentlich nichts anderes nämlich als das, was der leitende Sportredakteur schon immer über das Ringen zu sagen wusste, veröffentlichte jetzt das IOC in seiner Erklärung: Die Sportart ist nicht medienwirksam genug, sie interessiert im Grunde nur einige wenige Eingeweihte, das Regelwerk ist zu kompliziert, die Sportart hat es in ihrer langen Geschichte verpasst, sich zu modernisieren und aus sich selbst heraus zu finanzieren. Kurz: Ringen ist irgendwie aus der Zeit gefallen und ziemlich unsexy.
Dass die Griechen sich besonders über den Rauswurf der olympischen Urdisziplin erzürnen, liegt in der Natur der Sache. Ringen war schon in den antiken Spielen eine der damaligen fünf Kernsportarten. Der Ringkampf wurde bei den 18. Olympischen Spielen (708 vor Chr.) erstmalig ausgetragen. Gefragt war schon damals, was auch heute jede gute Ringerin und jeder gute Ringer (Frauenringen ist erst seit den Spielen 2004 in Athen olympisch) mitbringen muss, um auf der Matte zu bestehen: Kraft, Geschick, Ausdauer, Wendig- und Gelenkigkeit sowie nicht minder ein hohes Maß an Klugheit. Unumstrittener Ringkampfstar im antiken Olympia war übrigens Milon von Kroton. Der Kraftprotz aus der süditalienisch-griechischen Kolonie wurde sechsmal Olympiasieger. »Tapfer, aber gefräßig«, sagte der kluge griechische Philosoph Aristoteles über den antiken Star, der in seiner Heimat Hellas fast schon wie ein Halbgott verehrt wurde. Milon vermarktete sich zudem erfolgreich als Sänger und Wissenschaftler und fühlte sich dem pythagoreischen Ideal der Harmonie von Geist und Körper verpflichtet. Ein Universalathlet eben. Seine sportlichen Erfolge feierte Milon unweit der Stelle im antiken Olympia, an der noch heute alle vier Jahre das Olympische Feuer entzündet wird. Auch das erzürnt die internationale Ringerlobby, und die Griechen ganz besonders. »Sie töten den Olympischen Geist«, schimpfte der griechische Ringerpräsident Kostas Thanos im griechischen Fernsehen. So viel zur Geschichte.
Derzeit wird auf der Welt in 177 Ländern gerungen, 72 Ringer-Nationen waren bei den Olympischen Sommerspielen in London 2012 am Start, die Medaillen verteilten sich auf 29 Länder. Der Protest gegen die IOC-Entscheidung äußert sich global und ist vor allem strategisch crossmedial angelegt. Das ist gut gemacht. Es wird getwittert, was das Zeug hält, Unterschriften werden gesammelt und an den US-Präsidenten Barack Obama übergeben. Politiker aus Russland, den Ringer-Schwellenländern Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan und der Türkei haben sich sofort auf die Seite ihrer Ringerverbände geschlagen. In der Türkei soll man plötzlich gar keine Lust mehr auf eine Olympiabewerbung für Istanbul 2020 haben. Ringen gilt im Land schließlich als fest tradierter Volkssport, und die Griffkünstler sind dort echte Stars, so wie einstmals Milon im Nachbarland Griechenland. Selbst die USA und der Iran sind sich einmal einig: Ringen muss olympisch bleiben! Die Welt ist, so hat es den Anschein, zu einer einzigen, eng vernetzten Ringergemeinde mutiert. Auf Youtube flimmern unendlich viele Ringerfilme über den Schirm und werden über Facebook in die globalen sozialen Netzwerke gepostet. Der deutsche Ringer Wilfried Dietrich schultert da den übermächtigen Amerikaner Chris Taylor 1972 bei den Olympischen Spielen in München. Pasquale Passarellis legendäre Brücke von Los Angeles 1984 ist zu bewundern, und der dreimalige Olympiasieger Alexander Karelin aus Nowosibirsk wird plötzlich auch wieder populär.
Sollte Ringen nach den Spielen von Rio 2016 wirklich aus dem Programm fallen, so wetterte der griechische Ringerpräsident Thanos weiter, dann könnten die Spiele doch gleich in »Business Games« umbenannt werden. Dabei sind sie das doch schon lange, und auch der griechische Sportfunktionär weiß das allzu gut. Denn für sportliche Sentimentalitäten ist in dem knallharten Sportprodukt Olympische Spiele einfach kein Platz mehr. Selbst dann nicht, wenn die Geschichte einer wirklich schönen und anspruchsvollen Sportart wie Ringen bis tief in die Antike reicht. Alle derzeit 26 Sportarten der Olympischen Spiele sind längst zu Waren verkommen, die in einem akribischen Businessplan regelmäßig auf den Prüfstand gestellt werden. In Analysen wird die Rentabilität, der »Mehrwert« für das IOC, bemessen. Nichts anderes hat die 15köpfige IOC-Exekutivkommission in der vergangenen Woche in Lausanne gemacht. Ringen ist durchgefallen und wird, so ist die Logik des Unternehmens IOC, folgerichtig vom olympischen Markt genommen. Rollschuhfahren, Squash, Wakeboard, Klettern oder die chinesische Kampfsportart Wushu gelten jetzt als Nachrückfavoriten.
Das stolze Ringen ist so zu einem olympischen Modernisierungsverlierer geworden. Die Entscheidung des IOC ist entgegen dem sonstigen Geschäftsgebaren des Sportunternehmens sogar halbwegs transparent gefallen. Die IOC-Produktanalyse der Sportarten ist sauber in 39 Kriterien unterteilt und man kann sie nachlesen. Hier wird so ziemlich alles untersucht, was Geld bringt: die Popularität der Sportart auf dem Weltmarkt, attraktive TV-Darstellung und -Präsenz, Vermarktbarkeit und Möglichkeiten des Sponsoring, »Jugendlichkeit« und vieles mehr. Tradition kommt zwar auf dieser IOC-Werteskala auch vor, ist jedoch ganz unten angesiedelt und bringt kaum noch Punkte. Setzt man diese strenge Messlatte an, dann hat Ringen nach dem marktfixierten Denken der Olympiastrategen im olympischen Wettbewerbskanon wirklich kaum mehr etwas zu suchen. Andere Sportarten wie der Moderne Fünfkampf übrigens ebenfalls nicht. Allerdings ist der Moderne Fünfkampf noch geschützt durch eine breite Phalanx aus mächtigen und einflussreichen Spitzenfunktionären. Diverse Regel- und Zeitplananpassungen auf Druck der größten IOC-Geldgeber, der TV-Anstalten, geben dieser Sportart noch eine kurze Gnadenfrist. Dann müssen auch die Fünfkämpfer dran glauben, wie jetzt schon die Traditionssportart Ringen.