Das Buch »Pulphead. Vom Ende Amerikas« von J. J. Sullivan

Mit Axl Rose ins Disneyland

Vergesst Tom Wolfe! Wer wissen will, wie die USA ticken, liest besser die Reportagen von John Jeremiah Sullivan.

Die seit 1992 auf MTV ausgestrahlte US-Fernsehsendung »The Real World« hat ihre eigenen Gesetze und bringt Stars von durchaus eigenem Format hervor. Besonders beliebte Hausbewohner wie den Miz zum Beispiel, einen muskulösen, weißen Provinzler mit dröhnend-jovialen Alleinunterhalterqualitäten. Der Reporter John Jeremiah Sullivan hat sich mit dem Miz in einem Club getroffen. Sein daraus hervorgegangener, ebenso gescheiter wie lebenspraller Essay »Der wahre Kern der Wirklichkeit«, der in Sullivans Sammelband »Pulphead« erschienen ist, handelt von dem ganzen geregelten Wahnsinn dieser Reality-TV-Show, von den halbinszenierten Streits, dem Sex, den ständigen Eifersüchteleien. Außerdem erzählt Sullivan vom Leben nach »The Real World«. Da geht es dann um die daueralkoholisierten Schattenwelten, die Spring-Break-Partys, die ungezählten Clubs und Bars, durch die die Bewohner tingeln, wenn ihre Staffel vorbei ist. Manchmal tun sie das viele Jahre lang, denn, so der Miz: »Von irgendwas muss man ja leben.«
John Jeremiah Sullivan, 1974 in Louisville/Kentucky geboren und wohnhaft in North Carolina, ist einer der Starautoren der jüngeren amerikanischen Essay- und Reportageliteratur. Eine Kultur des Schreibens, die es hierzulande in dieser Form auch deshalb nicht gibt, weil man Zeitschriften mit ausreichend viel Platz für kluge, hochunterhaltsame Reportagen, Essays oder Kulturanalysen hier nicht kennt. Titel wie Harper’s Magazine, The Paris Review oder n+1 sucht man in Deutschland vergeblich. Darüber hinaus mangelt es vermutlich an Autoren, die talentiert und mutig genug sind, die Gepflogenheiten des sogenannten seriösen Journalismus ein bisschen umzukrempeln, etwa indem sie akribische Recherche und minutiöse, teilnehmende Beobachtung mit der eigenen, individuellen Erfahrung amalgamieren, was freilich auch bedeutet, »Ich« zu schreiben, wann immer man es für angebracht hält.
Sullivan macht das sehr häufig, während er beschreibt, aus welchem Stoff die von ihm aufgesuchten Paralleluniversen so gemacht sind, das Reggae-Rasta-Universum Jamaikas oder das erzreaktionäre der Tea Party. Wenn Sullivan das vom Hurrikan Katrina heimgesuchte New Orleans besucht und Menschen zu Wort kommen lässt, denen alles abhanden gekommen ist bis auf ihr nacktes Leben, findet er sich selbst am Ende der Reportage in einem Benzinknappheits-Szenario à la »Mad Max« wieder, das just zu eskalieren droht, als jemand fälschlicherweise behauptet, Sullivan habe sich in der meilenlangen Schlange vor der Tankstelle dreist vorgedrängelt. Wenn Sullivan sich auf die Suche nach den proletarischen Wurzeln von Axl Rose macht, geht er weit zurück in seine eigene Kindheit, um einfühlsam davon zu erzählen, wie der Zufall darüber entscheidet, wer es rausschafft aus der Provinz und wer nicht. Und wie die Deformationen beschaffen sind, die man mitnimmt. Die des Axl Rose zum Beispiel.
Die individuelle Erfahrung schadet Sullivans erfreulich vorurteilsfreien und von großer Neugier geprägten Texten also keineswegs. Gerade durch die emphatisch ausgeschriebene Subjektivität entsteht ja auch eine besondere Sorte Wahrheit, die individuelle nämlich, die gar nicht erst so tun muss, als wäre sie objektiv. Und die eine doppelte Nähe herstellt, zwischen Leser und Autor und zwischen Autor und Porträtierten. Wieso das »Ich« hierzulande so verpönt ist? Gute Frage.
Konsequenterweise reist Sullivan nicht allein, sondern mit seiner und einer befreundeten Familie nach Disneyworld in Florida, um die Entstehungsgeschichte und das Funktionieren des mächtigen, blitzsauberen amerikanischen Unterhaltungsparadieses zu untersuchen. »Und dann waren wir wirklich in Disneyworld angekommen. Dort landete man nicht jeden Tag. Also, was geht? Hallo, Primärfarben. Hallo, sekundenlang aufscheinende Mikrodramen vorbeiziehender Gesichter, die sich hundertfach für oder gegen Blickkontakt entscheiden müssen.« Nein, leicht ist es nicht – aber Sullivan gibt sich für seine Lieben alle Mühe, kein Spielverderber zu sein. Der hochamüsante, nachgerade paranoide Witz dieser Reportage kulminiert in Sulli­vans verzweifelter Suche nach einem provisorischen Versteck kurzzeitiger Ruhe: Wo ist es bloß, verdammt, das Plätzchen, an dem man einen Joint rauchen kann, ohne erwischt und wie ein Schwerverbrecher abgeführt zu werden?
16 tolle, reichhaltige Texte enthält der Sammelband »Pulphead«. Weshalb bloß hat der Suhrkamp-Verlag ihm den irreführenden Untertitel »Vom Ende Amerikas« verpasst? Da ist nämlich nirgends ein Ende in Sicht, und auch weit und breit kein apokalyptisch gestimmter Kulturpessimist, der meint, mal wieder das Ende ausrufen zu müssen. Sullivan ist ernsthaft interessiert an Geschichte und Gegenwart des Landes und an den Figuren, die es bevölkern. Nein, »Figuren« trifft es nicht: Menschen sind es – dreidimensional, frappierend lebendig.
Der Autor schreibt bildgewaltig, pointiert und fintenreich. Er malt die gegenwärtigen Widersprüche und Bizarrerien der USA, die selbst nicht ganz von dieser Welt zu sein scheinen. Er schreibt seine Reportagen bisweilen so, wie hervorragende Schriftsteller Short Stories. Auf die hohe Kunst kurzweiliger Abschweifung versteht er sich außerdem. Das ist eine ganze Menge, fürwahr – erst recht, wenn so viel Herz im Spiel ist.
Bunte Lichter im Club und auf dem Gesicht vom Miz, der gerade mit einem Mädchen tanzt, dessen Brust er signiert hat. Sullivan verabschiedet sich: »Ich muss los!« »Alles klar, Alter!« Der Miz tanzt weiter. »In diesem Augenblick fiel es mir unheimlich schwer, etwas Schlechtes über den Miz zu denken. Erinnern Sie sich an Ihr letztes Jahr im College? Wie das war? Feiern war alles, worum man sich kümmern musste, und wenn man loszog, spürte man, dass die Leute einen cool fanden. Es war ein großer Spaß, jung und Amerikaner zu sein. Erinnern Sie sich an dieses Gefühl? Ich mich auch nicht. Aber der Miz erinnert sich. Er hat einen Weg gefunden, für immer in diesem Gefühl zu leben. Drückt ihm die Daumen, Leute.«

John Jeremiah Sullivan: Pulphead. Vom Ende Amerikas Suhrkamp-Verlag, Berlin, 2012, 416 Seiten, 20 Euro