Das Phänomen Massensterben in der Tierwelt

Die Katastrophe bist du

Vor Island sind im Dezember und Februar riesige Mengen von Heringen verendet. Das Massensterben von Tieren ist kein neues Phänomen, aber die Ursachen haben sich geändert.

Als Georges Cuvier um die Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert seine Theorie geographisch begrenzter Katastrophen entwarf, war er der erste Theoretiker des Massensterbens in der Naturgeschichtsschreibung. Die als »Katastrophismus« bezeichnete Theorie Cuviers sollte in seiner Zeit die Tatsache erklären, dass viele Fossilien kaum Ähnlichkeit mit den lebenden Arten hatten. Cuvier nahm an, dass es in der Naturgeschichte zu wiederholten Katastrophen gekommen sei, in deren Verlauf unzählige Arten von Lebewesen ausgelöscht wurden. Nach seiner Lesart bot jede Katastrophe Gott eine neue Gelegenheit, sein Schöpferhandwerk auszuüben und dadurch neue Arten in die Welt zu setzen.

Charles Darwin setzte sich intensiv mit der Theorie Cuviers auseinander, verwarf sie aber letztlich, weil sie zu sehr auf der Konstanz der Arten bestand und keine Wandlungsmöglichkeiten innerhalb einer Art offen ließ. Trotzdem blieben auch nach Darwin zwei Probleme, die Cuvier angesprochen hatte, in der Welt. Zum einen war dies die Vorstellbarkeit des Prozesses des Aussterbens. Wie sollte das vor sich gehen, das Aussterben einer Art? Die Vorstellung, dass Tiere einer Art auf einmal oder allmählich verschwinden können, überforderte das ganze 19. Jahrhundert hindurch selbst Biologen. Eine weitverbreitete Annahme, um dem Problem auszuweichen, besagte, dass die ausgestorbenen Tiere nicht ganz verschwunden seien und woanders, fern unserer Kenntnis, weiterlebten. Erledigt hat sich diese Herangehensweise erst mit der Erfindung des Films. Mit den ersten Aufnahmen des letzten Beutelwolfs, auch Tasmanischer Tiger genannt, in einem australischen Zoo aus dem Jahr 1930 konnte das Aussterben einer Art sichtbar gemacht werden. Dieses Tier, sagten die Bilder, wird gelebt haben, wenn man den Film heute anschaut, und man wird es nirgendwo mehr finden. Es ist und bleibt verschwunden.
Zum anderen gab es da die Katastrophen. Im 19. Jahrhundert hatte man durch den Ausbruch des Vulkans Krakatau am 27. August 1883 im indonesischen Meer dank neuester Kabelnachrichtentechnik die Selbstvernichtung eines Vulkans und ihre schrecklichen Folgen fast weltweit miterleben können. Dass sich durch die massiven Auswirkungen des Vulkanausbruchs auch die Pflanzen- und Tierwelt in der Umgebung stark veränderte, wurde zwar bemerkt, aber erst sehr spät in die biologische Theorie übersetzt. Erst seit den achtziger Jahren findet Cuviers Katastrophentheorie wieder Beachtung. Das hängt mit den Fortschritten der Datierungswissenschaften zusammen, die erst seit wenigen Jahren in der Lage sind, konkrete Szenarien des Lebens vor jeder menschlichen Erfahrung zu beschreiben. Die Wissenschaft geht derzeit von fünf großen, relativ gesicherten Episoden des Massensterbens von Individuen und Arten aus. Die bekannteste und bisher letzte ist das Artensterben am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren, dem die Dinosaurier, die Ammoniten und ein Großteil des marinen Planktons zum Opfer fielen.

Cuviers Katastrophentheorie bietet für die Ereignisse des großen Massensterbens immer noch eine hinreichende Erklärung, weil sie vor allem lokal orientiert ist und die Katastrophen nicht als globale denkt. Das macht seine Theorie in modifizierter Form immer noch anwendbar, auch auf aktuelle Phänomene des Massensterbens wie den Tod von abertausend Heringen in einem Fjord in Island. Im Kolgrafafjördur, einem Fjord im Westen Islands, sind innerhalb von zwei Monaten insgesamt 50 000 Tonnen Heringe aufgrund von Sauerstoffmangel erstickt. Es waren zuerst im Dezember und dann noch mal im Februar ungewöhnlich viele Heringe auf ihren jährlichen Wanderungen in den Fjord geschwommen. Was die Heringe nicht oder zu spät bemerkt hatten, war, dass sich die Sauerstoffverhältnisse im Fjord durch Aufschüttungsarbeiten für eine Brücke verschlechtert hatten, so dass es nicht mehr für alle reichte. So waren im Dezember riesige Mengen an Heringen erstickt, die dann durch den Verwesungsprozess im Wasser die Sauerstoffverhältnisse noch weiter verschlechterten, so dass das zweite Massensterben zwangsläufig eintrat.
Die Ursache für das Massensterben der Heringe in Island ist menschlichen Ursprungs und damit partiell vergleichbar mit der Mutter aller Kata­strophen dieser Art im entwickelten Europa: Als 1986 der Brand in einer Lagerhalle des damals in Basel ansässigen Chemiekonzerns Sandoz, der heute zu Novartis gehört, den Rhein mit 20 Tonnen hochgiftigen Pestiziden und Insektiziden verunreinigte, folgte eine der größten Umweltkatastrophen der neueren Zeit. Über eine Länge von 450 Kilometern kam es zu einem weder zu übersehenden noch zu überriechenden Fischsterben im Rhein. Auch in diesem Fall waren die Ursachen menschengemacht. Das Gift im Rhein wie die erstickten Heringe vor Island können als Indizien dafür gelten, dass wir uns gerade in einer sechsten Periode des Massensterbens von Individuen und Arten befinden, die sich von allen anderen erdgeschichtlichen Perioden dadurch unterscheidet, das sie menschengemacht ist. An dem Befund ändert auch die Tatsache nichts, dass der Rhein mittlerweile durch ein 60 Milliarden Euro teures »Aktionsprogramm Rhein« zu einem Fluss geworden ist, der mittlerweile so gute Lebensbedingungen für Fische und Pflanzen bietet wie noch nie in der Zeit nach der Industrialisierung.
Es ist nämlich Glück oder Zufall, dass die Verhältnisse im Rhein eine Renaturierung zulassen, die wirklich zu einem erstaunlichen Artenreichtum im Fluss geführt hat. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die meisten Fischarten des Rheins in ihrer Verbreitung nicht allein auf den Rhein beschränkt sind, sondern auch in anderen Flüssen leben. Eine Tatsache, die die Wiederansiedlung zum Beispiel von Lachsen möglich macht. Für die meisten Arten, seien es Pflanzen oder Tiere der sogenannten Hot Spots der Artenvielfalt in den Korallenriffen und tropischen Regenwäldern, gilt das nicht. Die Arten dort leben oft in einer so eng begrenzten ökologischen Potenz, dass auch kleinste Änderungen sie auf immer verschwinden lassen. In tropischen Regenwäldern können Arten auch deshalb relativ unspektakulär aussterben, weil sie in sehr vielen Fällen noch nicht einmal bestimmt sind. Und was man nicht kennt, kann auch nicht verschwinden, wie uns ja auch die Erkenntnistheoretiker in den Universitäten erzählen. Das ändert aber nichts daran, dass mit jedem Quadratmeter Regenwald und jedem Korallenriff etwas verschwindet, das nicht mehr wiederkommen wird, und dass dieses Verschwinden kein Vulkan oder Asteroid verursacht hat.

Das derzeitige Massensterben ist tatsächlich die sechste Periode dieser Art in der Erdgeschichte, und die Heringe vor Island sind dafür nur ein beliebiges Beispiel. Es handelt sich dabei auch nicht um eine hysterisch-apokalyptische Vision von Untergangspropheten, sondern nur um eine sachliche Beschreibung einer neuen Form des alten Cuvier’schen Katastrophismus. Ein Hauptproblem des neuen Massensterbens der Arten ist allerdings, dass es für die meisten Menschen abstrakt bleibt. Denn wenn in den tropischen Regenwäldern, die nur 2,3 Prozent der Erde ausmachen, 42 Prozent aller bekannten höheren Pflanzen und Wirbeltierarten leben, dann ist das trotz Film und Fernsehen für den größten Teil der Menschen ziemlich weit weg und ein Massensterben dort kaum nachvollziehbar. Daran ändern dann auch stinkende Fische in einem Fjord wenig.
Mit einem kritisch gewendeten Cuvier kann man heute aber wissen, dass nach der Katastrophe kein Gott mehr kommt, der die Sachen neu herstellt. Menschengemachtes Massensterben, das, wie man in Island sehen kann, immer etwas anderes als eine Naturkatastrophe ist, bei der zum Beispiel Zugvögel wie Schwalben in großen Mengen in einem plötzlichen Schneesturm verenden, ist endgültig. Das heißt aber nicht, dass man es nicht beenden oder zumindest verlangsamen könnte, man müsste dazu nur 2,3 Prozent der Erde einfach in Ruhe lassen. Das würde schon viel helfen.