Die EU-Kommission klagt gegen das »VW-Gesetz«

Es geht um deutsche Interessen

Der Europäische Gerichtshof verhandelt derzeit eine Klage der EU-Kommission ­gegen das »VW-Gesetz«. Dabei geht es nicht nur ums Prinzip, sondern auch um politische Interessen.

Seit Dienstag voriger Woche wird erneut das sogenannte »VW-Gesetz« vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt, nachdem die EU-Kommission, wie vor zwei Jahren angekündigt, gegen das Gesetz geklagt hat. Bereits 2007 hatte der EuGH geurteilt, das Gesetz verstoße gegen die Freiheit des Kapitalverkehrs, und von der Bundesregierung die Änderung dreier darin enthaltener Regelungen verlangt. Konkret kritisierte das Gericht, dass das Land Niedersachsen als Aktionär stets zwei Vertreter in den Aufsichtsrat entsandte, ohne dass die Hauptversammlung über diese abstimmen konnte, dass das Stimmrecht eines Investors auf 20 Prozent beschränkt war, egal wie hoch sein Anteil ist, sowie dass wichtige Beschlüsse der Hauptversammlung eine Mehrheit von 80 Prozent benötigen, während das Aktiengesetz eigentlich 75 Prozent vorsieht.
Die beiden erstgenannten Regelungen wurden daraufhin geändert, an der Sperrminorität von 20 Prozent plus eine Aktie hielt die Bundesregierung jedoch fest. Sollte die Bundesregierung das Gesetz nicht ändern, verlangt die Kommission eine Strafe von mindestens 46,5 Millionen Euro. Mit einem Urteil wird nicht vor dem Herbst gerechnet.

Das Gesetz war ursprünglich im Bundestag beschlossen worden, um die bis dahin ungeklärten Eigentumsverhältnisse am Volkswagen-Konzern zu regeln, dessen Vorläufer 1945 von den Alliierten enteignet worden war und der 1960 weitgehend privatisiert wurde, wobei 60 Prozent des Kapitals als »Volksaktien« verkauft wurden. Um den Widerstand, der sich auf Seiten von Gewerkschaft und Belegschaft formierte, zu brechen, wurde das »VW-Gesetz« beschlossen. Darin sind besondere Mitbestimmungsrechte des Staates und des Betriebsrats festgeschrieben. Aus gewerkschaft­licher Sicht sollte dadurch eine Demokratisierung des Eigentums durch breite Beteiligung am Produktivvermögen und ein Machtgleichgewicht zwischen Aktionären, Arbeitnehmern und der öffentlichen Hand erreicht werden.
Der dem Gesetz zugrundeliegende Staatsvertrag garantierte dem Land Niedersachsen und der Bundesrepublik jeweils 20 Prozent der Aktien und je zwei Entsendemandate im Aufsichtsrat. Zusätzlich einigte man sich darauf, dass für die Gesellschaft eine Stimmrechtsbeschränkung gelten sollte und dass für eine qualifizierte Mehrheit 80 statt 75 Prozent der Stimmen benötigt werden. Die verschiedenen Gesetzesregelungen sollten der Schaffung und Erhaltung von »Volksaktien« dienen, das heißt möglichst viele Aktionäre sollten ein Mitspracherecht erhalten und nicht ein einzelner Gesellschafter alle Entscheidungen treffen können. Letztlich spiegelte sich in diesen Regelungen ein Klassenkompromiss wider, der den Vorstellungen der Gewerkschaftsbürokratie der fünfziger Jahre von Wirtschaftsdemokratie innerhalb des kapitalistischen Systems Rechnung tragen und zugleich das Interesse des Staates berücksichtigen sollte.
Von diesem sozialdemokratischen Ausgleichsmodell ist kaum noch etwas übriggeblieben. Die Bundesrepublik hat ihre Anteile mittlerweile verkauft, der Porsche-Piëch-Clan hat mit über 50 Prozent der Stimmrechte im VW-Konzern unangefochten die Führung übernommen.

Der Weltkonzern mit mehr als 300 000 Beschäftigten erzielte zuletzt über 20 Milliarden Euro Profit und die »Volksaktien« waren nie ein Instrument, um die ökonomischen Machtverhältnisse zu verändern, sondern vielmehr ein sozialkorporatistisches Modell zur Integration der Arbeiter in den Konzern zum Zweck der Proftmaximierung im Sinne des Standortnationalismus.
Geblieben ist der Anteil der niedersächsischen Landesregierung von 20,01 Prozent und die damit gesetzlich garantierte Sperrminorität, die auch die Bundesregierung bei ihren vom EuGH verordneten Nachbesserungen unangetastet ließ. Diese sichert dem Land Niedersachsen ein Vetorecht in wichtigen strategischen Fragen sowie bei Standortentscheidungen und war auch ausschlaggebend dafür, dass der Versuch von Porsche, VW zu kaufen, scheiterte. Stattdessen erwarb der Volkswagen-Konzern Porsche.

Zum Teil geht es in dem Rechtsstreit zwischen der EU-Kommission und der Bundesregierung sicherlich um die ideologische Grundsatzfrage, welche Form der Kapitalverwertung – neoliberal oder moderat reguliert – auf dem europäischen Kontinent zur Anwendung kommen soll. Die EU-Kommission hat in den vergangenen Jahren in nahezu jedem Punkt bewiesen, dass sie bereit ist, die Freiheit des Kapitals auch gegen nationalstaatliche Kontrollmechanismen durchzusetzen. Letztlich geht es aber auch um die Interessen des deutschen Staates und seiner Leitindustrie, denn VW ist der bedeutendste Konzern der deutschen Automobilindustrie, und das »VW-Gesetz« sichert ihn bis heute effektiv gegen feindliche Übernahmen ab.
Damit wird verhindert, dass andere Interessen und Prioritäten, deren Vereinbarkeit mit den ökonomischen und geostrategischen Zielen des deutschen Imperialismus zumindest zweifelhaft wären, im Konzern Gehör finden. So kann doch zumindest darüber spekuliert werden, ob nicht etwa das Emirat Katar, das bereits 17 Prozent der Anteile an VW hält, doch wenigstens versuchen würde, eigene Vorstellungen durchzusetzen, wenn sich sein Aktienanteil weiter erhöht.
Den Bemühungen der EU-Kommission dürfte, neben ihrer allgemeinen Politik der Durchsetzung des freien Kapitalverkehrs, sicherlich auch ein gewisses Unbehagen an der dominierenden Rolle Deutschlands in der EU zugrunde liegen. Dass hier – zumindest symbolisch – deutsche nationale Interessen berührt sind, ist den Beteiligten klar. So warf sich denn auch der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz in Wolfsburg engagiert in die Bresche. »Ich werde dieses Volkswagen-Gesetz weiterhin verteidigen. Wir haben ein Recht darauf, dass es bestehen bleibt und nicht eingeebnet wird im Namen einer marktradikalen Ideologie«, sagte der SPD-Politiker am vergangenen Mittwoch bei einer Betriebsversammlung im Wolfsburger VW-Stammwerk. Die Institutionen der Europäischen Union hätten die Aufgabe, die Mitgliedstaaten im globalen Wettbewerb zu stärken, »nicht die Aufgabe, Volkswagen mit dem VW-Gesetz zu ärgern«.
Noch deutlicher werden Teile der bürgerlichen Presse. So titelten etwa die Deutschen Wirtschafts-Nachrichten, ein sich stets eindeutig äußerndes Kampfblatt des deutschen Unternehmertums: »Kalte Enteignung: EU will deutschen Einfluss bei VW schwächen«. Auch die Süddeutsche Zeitung, sonst etwas subtiler, titelte: »EU will deutsche Macht bei VW brechen«. Ob es sich wirklich um ein wichtiges Grundsatzurteil handelt oder um einen Sturm im Wasserglas, bleibt abzuwarten. Deutlich hingegen wird einmal mehr, dass die Regulierung des Kapitalverhältnisses Konflikten auch innerhalb des Kapitals und der staatlichen und suprastaatlichen Apparate unterworfen ist, die sich mit der europäischen Krise zuspitzen.