Israel hat endlich eine Regierung

Wohnen ist wichtiger als Frieden

In Israel hat es Ministerpräsident Benjamin Netanyahu doch noch geschafft, eine Koalitionsregierung zu bilden. Einfach dürfte das gemeinsame Regieren aber nicht werden.

Benjamin Netanyahu galt als begnadeter Zauberer der israelischen Innenpolitik. Er kannte alle Taschenspielertricks, um seit 1996 schon zum dritten Mal eines der kleinsten und zugleich schwierigsten Länder der Welt zu regieren. Buchstäblich in allerletzter Minute vor Sonnenuntergang am Freitag voriger Woche, just vor Beginn des Sabbat, überredete er Jair Lapid von der Zukunftspartei und Naftali Bennett von der Partei »Jüdisches Haus« per Fax, den Koalitionsvertrag zu unterschreiben. Am Tag zuvor hatte es noch nervenaufreibende Verhandlungen gegeben, weil Lapid und Bennett beleidigt waren wegen der Abschaffung des Titels »Vizepremier« und des Beschlusses, keine »stellvertretenden Minister« zuzulassen. Diese überflüssigen Posten hätten weiteren Abgeordneten eine Beteiligung an der Regierung ermöglicht, mitsamt Dienstwagen, Büro, Zusatzgehalt und Leibwächtern als Statussymbol.
Obgleich Netanyahu die Frist zur Regierungsbildung eingehalten hatte, lagen die schwierigen Aufgaben noch vor ihm. Netanyahus Koalitionspartner wussten schon, welche Ressorts ihnen künftig unterstehen würden. Justiz und Friedensgespräche für Tzipi Livni von der Bewegungspartei, Finanzen für Lapid, Handel und Religion für Bennett. Doch die eigenen Parteigenossen Netanyahus mussten weiterhin bangen, zu geringen Einfluss zu erhalten oder leer auszugehen. Schlechte Stimmung machte sich in der eigenen Partei breit. Ohnehin hatte den Likud das fatale Bündnis mit Avigdor Liebermans Partei »Unser Haus Israel« fast ein Drittel der bisherigen Stimmen und die Hälfte der Macht gekostet.

Am Sonntag lud Netanyahu seine Parteifreunde zum Gespräch. Moshe »Bugi« Ya’alon wurde als Nachfolger von Ehud Barak zum Verteidigungsminister ernannt. Das war vorherzusehen. Aber der ehemalige »Vizepremier«, Silvan Shalom, wollte sich nicht mit dem »Galiläa- und Negev-Ministerium« abspeisen lassen. Er wollte Einfluss und erhielt schließlich das Energie- und Wasserministerium sowie einen Platz im »Friedenska­binett«. Ähnlich ging es Yuval Steinitz, dem ehemals mächtigen Finanzminister, sowie anderen Likudpolitikern, deren Namen im Ausland und selbst in Israel kaum bekannt sind.
Welchen Kurs diese neue Regierung einschlagen wird, lässt sich schwer abschätzen. Die ausländischen Medien betrachten nur die Siedlungspolitik und den »Friedensprozess« mit den Palästinensern als Probleme israelischer Politik. Deshalb war schon von einer »Rechts-Mitte-Koalition« mit Rechtsextremisten die Rede und einem »Sieg der Siedler«. Genauso wurde die vorige Regierung Netanyahus charakterisiert, als noch die frommen und ultraorthodoxen Parteien am Kabinettstisch saßen. Doch diese haben mit Siedlungen und Siedlungspolitik herzlich wenig zu tun. Aus Rache dafür, von Netanyahu verschmäht und nicht in die Koalition eingeladen worden zu sein, weil seine neuen Partner ein Veto eingelegt hatten, kündigten die Orthodoxen als Oppositionsparteien schon den Kampf gegen Siedler an.
So wie es in der deutschen Politik nicht nur um den »Atomausstieg« und die gleichgeschlechtliche Ehe geht, gibt es auch in Israel neben Siedlungen und Palästinensern noch andere Herausforderungen. Zunächst einmal weiß niemand, wie gut oder schlecht diese neue Regierung funktionieren wird, an der Politiker ohne jede Erfahrung mit Politik und Verwaltung beteiligt sind. Der Fernsehstar Lapid wird als Finanzminister das schwierigste und zugleich wichtigste aller Ministerien leiten. Er wird drastische Budgetkürzungen vornehmen müssen. Da kann er nicht per Gießkannenprinzip ein paar Shekel mehr für Krankenschwestern und Holocaust-Überlebende geben, oder ein paar Shekel weniger für Eisenbahnen und Straßenbau – hier geht es um Milliardenbeträge. Kürzungen beim Militär könnten das Ende Israels bedeuten, falls ihm angesichts von Bedrohungen von außen, sei es durch das iranische Regime mit Atombomben, das zerfallende Syrien mit Giftgas oder die Hizbollah im Libanon mit 60000 eingelagerten Raketen, dann die nötige militärische Ausrüstung fehlen sollte. Zu wenig Geld für Wissenschaft und Forschung würde außerdem Israels wirtschaftliche Zukunft gefährden.

Netanyahus Partner wollen großes Gewicht auf die Sozialpolitik legen. Die Wahlen haben sie mit dem Slogan »Soziale Gerechtigkeit für alle« gewonnen, nachdem es vor zwei Jahren zum »Hüttenkäse-Aufstand« gekommen war. Damals ging es um überteuerte Lebensmittelpreise, unbezahlbare Wohnungen, die Verarmung der Mittelklasse und die sträfliche Vernachlässigung der Peripherie. Doch wie soll das alles finanziert werden, während die Finanzkrise langsam auch Israel erfasst? Schon wurde vor allem im Ausland angemerkt, dass Siedlungsbefürworter nun für Landverwaltung und Wohnungsbau verantwortlich seien. Doch der Bau weiterer Häuser in abgelegenen Siedlungen kann nicht die akuten Bedürfnisse von Studierenden oder jungen Paaren stillen. Diese benötigen in Haifa, Tel Aviv oder Be’er Sheva erschwinglichen Wohnraum.
Auch wenn die Orthodoxen nicht mehr in der Regierung sitzen und den für sie so wichtigen Finanzausschuss in der Knesset aufgeben mussten, wird die Regierung künftig diesen Teil der Gesellschaft, der etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmacht, mit viel Sozialhilfe unterstützen müssen. Gleiches gilt für israelische Araber, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie erwarten wirtschaftliche Chancengleichheit und fühlen sich benachteiligt. Wie in den USA, Deutschland und fast jeder anderen Demokratie der Welt haben die Israelis für jene Partei gestimmt, die sich am ehesten ihren persönlichen Problemen widmet, und nicht für abstrakte außenpolitische Konzepte. Frieden mit den Palästinensern oder ein Ende der Siedlungspolitik waren bei diesem Wahlkampf nicht einmal bei linken Parteien ein prominentes Thema. Und entsprechend »kompliziert« fiel das Wahlergebnis aus, wie Staatspräsident Shimon Peres sagte, als er Netanyahu dafür lobte, trotzdem eine Koalition zustande gebracht zu haben.
Israelische Kommentatoren wissen selbst nicht, welchen Kurs die künftige Regierung einschlagen wird; Netanyahu sei deutlich geschwächt und werde nicht mehr selbstherrlich Entscheidungen treffen können. Mehr Rücksicht auf Partner könnte aber bei kritischen Fragen zu einer Lähmung führen. Gerade bei schmerzhaften Haushaltskürzungen seien »mutige« Beschlüsse gefordert.
Zwischen Netanyahu und Bennett gebe es zudem Konflikte, weil letzterer angeblich eine private Fehde mit Netanyahus Frau Sara habe. Vertrauenskrisen werden auch für die Beziehungen zwischen Netanyahu und anderen Ministern vorhergesagt, zum Beispiel zu Livni. Bei den Wahlen von 2009 war sie noch seine Herausforderin, jetzt spielt sie als Justizministerin nur eine untergeordnete Rolle. Die ihr anvertrauten Verhandlungen mit den Palästinensern, vorausgesetzt dass sie zustande kommen, wird Livni ohnehin nicht eigenmächtig führen können.
In der Außenpolitik sind keine dramatischen Änderungen zu erwarten. Netanyahu wird kommissarisch Außenminister bleiben, solange der Korruptionsprozess gegen seinen Partner Lieberman andauert. Sollte dieser verurteilt werden, könnte er nicht mehr Minister werden. Bereits in der vorigen Regierung hatte Netanyahu die Beziehungen zu den USA, Europa und den Palästinensern alleine gepflegt, während er Lieberman den »Rest der Welt« überlassen hatte, russischsprachige Länder, Indien, China und den afrikanischen Kontinent.