Religion und Tanzverbot

Die Diktatur der Kühlschränke

In den alljährlichen Debatten um das Tanzverbot am Karfreitag geht es weniger um Glaubensfragen als vielmehr um eine spezifisch deutsche Kultur der Freudlosigkeit.

»You can dance if you want to«, heißt es in einem Song der Men Without Hats, der in meiner Jugend recht verbreitet war. Leider trifft diese Behauptung für deutsche Verhältnisse nicht grundsätzlich zu, wie ich am Karfreitag des Jahres 1984 feststellen musste. Ich war erst 16, aber die ersten im Freundeskreis fuhren schon mit klapprigen Kadetts oder Käfern herum, was es uns ermöglichte, dem öden Wiesbaden zuweilen zu entfliehen, um unser Glück auf der anderen Rheinseite zu suchen. Die Mainzer Disco »Terminus« entsprach unserem jugendlichen Hedonismus deutlich besser als das heimische Angebot. An jenem Freitag aber war die Tanzfläche leer, die Lichtanlage aus und anstelle der fröhlichen Men Without Hats erklang Lionel Richies geschluchztes »Hello – is it me you’re looking for?« mit kaum noch messbaren Dezibel aus den Boxen. »Ist jemand gestorben?« fragten wir die Barkeeperin. »Ja«, erwiderte sie mit säuerlichem Lächeln, »Jesus.« Nach einiger Verwirrung aufgrund theologischer Unkenntnis unsererseits fluchten wir ausgiebig auf den Pfälzer Katholizismus und machten uns auf den Rückweg ins eher protestantische Wiesbaden. Allerdings erwartete uns in der dortigen Bhagwan-Disco »Wartburg« ein ähnliches Bild, denn Tanzverbote an kirchlichen Feiertagen – so lernten wir an diesem Abend – sind keine katholische Spezialität, sondern vor allem eine deutsche.
Zwar galten im mehrheitlich katholischen Bayern noch bis vor kurzem die meisten ganztägigen Verbote, aber in der Gesamtzahl der betroffenen Tage belegt Baden-Württemberg, wo sich Katholiken und Protestanten die Waage halten, den Spitzenplatz, dicht gefolgt von den mehrheitlich protestantischen Ländern Hessen und Bremen. Selbst in Ostdeutschland, wo der Anteil aller konfessionell gebundenen Christen an der Gesamtbevölkerung im Schnitt gerade mal bei 20 Prozent liegt, gibt es die sogenannten stillen Feiertage, und auch dort ist speziell der Karfreitag überall mit einem ganztägigen Verbot belegt. Außerhalb Deutschlands dagegen existieren – Wikipedia zufolge – gesetzliche Tanzverbote nur in Österreich, einigen deutschsprachigen Kantonen der Schweiz und in Sharia-Gesellschaften wie dem Iran. Ob in den USA, Südamerika, Italien oder Spanien – überall darf getanzt werden, und oft sind es gerade die Gläubigen, die an christlichen Feiertagen ihr Bein schwingen.

Nicht so in Deutschland. Hier ist nicht nur Tanzen verboten, sondern – abgesehen vom Bierausschank – gleich alles, was eventuell Spaß machen könnte: Live-Musik, Jahrmärkte, Messen mit Unterhaltungscharakter und Sportveranstaltungen bis hin zu Schachturnieren. Radiosender haben »auf den ernsten Charakter der Feiertage Rücksicht zu nehmen«, wie es das hessische Feiertagsgesetz formuliert, und die Freiwillige Selbstkon­trolle der Filmwirtschaft (FSK) prüft Kinofilme hinsichtlich ihrer Eignung für die »stillen Feiertage«. Selbst die sonst so sakrosankten Wirtschaftsinteressen haben sich im »Land der Dichter und Denker« einem gemutmaßten Volksbedürfnis nach »seelischer Erhebung« unterzuordnen, die – da sind sich alle Bundesländer einig – keinesfalls mit körperlicher Ekstase, sondern nur mit »Stille« und »Ernst« erreicht werden kann. Dem mögen auch ästhetische Erwägungen zugrunde liegen, denn: »Wenn wir Deutschen tanzen, und nebenan tanzen Brasilianer, dann sieht das bei uns eben aus wie bei Kühlschränken.« (Fußball-Philosoph Berti Vogts)
Seit 2011 versucht nun eine Koalition aus tanzwilligen Grünen, Linksparteilern, Jungliberalen und Piraten die entsprechenden Landesgesetze zu Fall zu bringen. Mit unterschiedlichem Erfolg. Die bayerische Landesregierung versucht sich in Kompromissbereitschaft und wird in diesem Jahr einige bislang ganztägige Tanzverbote stundenweise begrenzen, nicht aber die am Karfreitag und Karsamstag. Die Bremer Bürgerschaft dagegen einigte sich in der vorigen Woche darauf, auch den Karfreitag ab 21 Uhr für Tänzer freizugeben. In Hamburg und Berlin gelten offiziell zwar ebenfalls begrenzte Verbote, aber die wurden von jeher so regelmäßig wie selbstverständlich missachtet, dass das Demonstrieren nicht lohnt. In anderen Bundesländern hat es entweder noch keine größeren Proteste gegeben oder die Landesregierungen versuchen, die Debatte auszusitzen. In Hessen jedoch wurde in den vergangenen Jahren mit Flashmobs und Demonstrationen so intensiv gegen das geltende Gesetz vorgegangen, dass es dadurch tatsächlich zu Störungen von Gottesdiensten und religiösen Prozessionen kam.
Daher stritt man schon 2012 weniger um das Tanzverbot an sich als vielmehr um die Genehmigung und die mögliche Form der Protestaktionen. Die hessischen Ordnungshüter hatten angekündigt, auch gegen »Kopfhörerdemos« vorzu­gehen, bei denen zwar Menschen tanzen, aber keine Musik zu hören ist. Daraufhin zogen Vertreter der Piratenpartei vor das Bundesverfassungsgericht, wurden jedoch abgewiesen, weil sie sich zuerst an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof hätten wenden müssen. Dieses Versäumnis ist bislang nicht nachgeholt worden, was eventuell nicht nur der wirr-aktionistischen Vorgehensweise der Piratenpartei im Allgemeinen geschuldet ist, sondern auch der Erkenntnis, dass man sich für seine Klage den falschen Ort ausgesucht hatte. In Karlsruhe gegen eine Einschränkung des Versammlungsrechtes zu protestieren, ist insofern sinnlos, als das Grundgesetz derlei Einschränkungen durchaus zulässt (Artikel 8, Absatz 2), wie jeder weiß, der zwischen Twitter und Tanzboden auch mal demonstrieren geht. Ein besserer Grund für eine Verfassungsklage wäre es, den Anspruch der Christen auf feiertägliche Stille grundsätzlich in Frage zu stellen. Das hat aber bislang niemand getan.

Sind die Deutschen etwa besonders gläubig? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Während sich 86 Prozent der Italiener und um die 90 Prozent der Polen zum christlichen Glauben bekennen, sind nur 61 Prozent der Deutschen konfessionell an eine der beiden großen Kirchen gebunden, die meisten zudem wohl mehr aus Tradition. Eine Meinungsumfrage der Europäischen Kommission von 2005 jedenfalls ergab, dass weniger als die Hälfte der Deutschen überhaupt an einen Gott glauben, wobei Muslime, Juden und Anhänger heidnisch-esoterischer Sekten schon mit eingerechnet sind. Dies sollte einer entsprechenden Verfassungsklage eigentlich ausreichende Relevanz verleihen. Schließlich garantiert das deutsche Grundgesetz nicht nur Religionsfreiheit, sondern auf Wunsch auch die Freiheit von Religion.
Hierzu übernahm man seinerzeit den Artikel 136 der Weimarer Reichsverfassung von 1919, in dessen Abschnitt 4 es heißt: »Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.« Genau das geschieht jedoch, wenn Menschen nicht einmal in der Abgeschiedenheit eines Kellerclubs tanzen dürfen, nur weil anderswo die Gläubigen ihres Heilands gedenken. Schließlich geht es in der aktuellen Debatte weder um klassische Ruhestörung noch um den von Verteidigern der Stille vielfach ins Feld geführten »Respekt« vor religiösen Gefühlen. Im Gegenteil: Es sind ja die Gläubigen, die hier den Nichtgläubigen ihren Respekt versagen, indem sie deren Weltanschauung missachten und sie zur passiven Teilnahme an ihrem religiösen Ritual zwingen. Auch Andersgläubige, wie Juden und Muslime, werden an christlichen Feiertagen ihrer individuellen Freiheitsrechte beraubt, um so einem Christengott zu huldigen, dessen vorgebliche Abneigung gegen tanzende Menschen mit der Bibel gar nicht belegt werden kann und nicht einmal vom Vatikan, sondern ausschließlich von deutschen Christen behauptet wird. Speziell den Juden wird dabei eine Rücksicht abverlangt, die an Selbstverleugnung grenzt, wurde doch in der Amtszeit des deutschen Papstes Benedikt XVI. die Judenfürbitte im Karfreitagsgebet wieder so umformuliert, dass sie deren Religion grundsätzlich in Frage stellt.
Für die Atheisten fragte sich unlängst der Literaturkritiker Georg Diez in einer Kolumne zur Papstwahl: »Gibt es denn auch nichtreligiöse Gefühle, die verletzt werden können?« Die Antwort: Laut Grundgesetz schon, nach den Feiertagsgesetzen der Bundesländer jedoch nicht. Das­selbe gilt für explizit antireligiöse Gefühle, für die schon die Kirchenhistorie mit Inquisition, Kreuzzügen, Anstachelung zu Pogromen und Fluchthilfe für NS-Mörder allerlei Gründe liefert, von ihren gegenwärtigen menschenverachtenden Positionen etwa zu Homosexualität, Schwangerschaftsabbruch und Verhütung ganz zu schweigen. Zwar ist Deutschland kein laizistisches Land wie Frankreich, wo Staat und Kirche vollständig voneinander getrennt sind, aber der Staat ist in religiösen Fragen zu Neutralität verpflichtet ist. So will es wenigstens das Grundgesetz. In Gesetzgebung und Herrschaftsmentalität der Bundesländer dagegen hat sich der Geist des aus der Reformation entstandenen »Cuius regio, eius religio« erhalten – »wessen Gebiet, dessen Religion«. Dieser prägte auch die Haltung Bayerns in der Debatte um Kruzifixe an deutschen Schulen. Das Bundesverfassungsgericht war jedoch anderer Ansicht und stellte in seinem Kruzifix-Beschluss von 1995 verbindlich fest, dass christliche Symbole in Klassenzimmern gegen die Religionsfreiheit nach Artikel 4 GG verstoßen.

Daran zeigt sich nicht nur, wie aussichtsreich eine Verfassungsklage gegen das Tanzverbot sein könnte. Es erklärt auch, warum die Verteidiger des Tanzverbotes die religiöse Dimension der Debatte häufig um eine »kulturelle« ergänzen. Matthias Kamann schreibt in der Welt: »Doch geht es nicht nur um den Schutz religiöser Gefühle, sondern auch darum, dass unser Staat nicht anders kann, als die prägenden Grundlagen unserer Kultur durch öffentliche Ordnungssetzung zu schützen.« Übersetzt heißt das: Christentum hin oder her, der Deutsche tanzt eben nicht, wenn es ernst wird.
Leider ist das nicht ganz falsch, denn wie eingangs geschildert, handelt es sich beim Tanzverbot tatsächlich um eine deutsche Spezialität, die nicht zwangsläufig einen religiösen Hintergrund benötigt. Auch in beiden Weltkriegen gab es hierzulande Tanzverbote, und neben Karfreitag und Totensonntag ist der einzige Feiertag, an dem alle Bundesländer Vergnügungen dieser Art untersagen, kein christlicher. Es ist der Volkstrauertag, den der Kabarettist Erwin Pelzig einmal treffend »das Erntedankfest der Rüstungs­industrie« nannte.
Wie existentiell des Deutschen »seelische Erhebung« durch tanzende Menschen bedroht wäre, hat allerdings wieder ein Christ am Beispiel des Karfreitags klargestellt, nämlich Volker Jung, der Präsident der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. »Wer diesen Feiertag inhaltlich entkernen will, der wird ihn letztlich abschaffen«, verkündete er 2011 in der FAZ, und drohte: »Die Alternative (…) könnte auch ›normaler Arbeitstag‹ heißen.« Über Menschen aber, deren Angst vor Kontrollverlust so ausgeprägt ist, dass sie lieber auf arbeitsfreie Zeiten verzichten, als anderen das Tanzen zu gestatten, haben schon die Men Without Hats Anfang der Achtziger alles gesagt, was man wissen muss: »If they don’t dance, they are no friends of mine.« Das gilt für Kühlschränke wie für Menschen.