Warum fürchtet die Kirche das Tanzen?

Thank God it’s Friday

Tanzen ist eine zutiefst religiöse Angelegenheit. Über das paradoxe Verhältnis von Tanz und Glaube.

Christen betrauern am Karfreitag den Kreuztod Jesu Christi. Vor allem für Protestanten, aber freilich auch für die römisch-katholische Kirche heißt das: An diesem Tag bleibt Leib und Seele fast jede Lust versagt, das Tanzverbot ist Gesetz. Dabei ist Tanzen eigentlich eine zutiefst religiöse Angelegenheit. Auch und gerade das Christentum, sowieso das Judentum und schließlich selbst der Islam stehen einem Gott zugewandten, gleichwohl auch die Lebensfreude feiernden Tänzchen durchaus aufgeschlossen gegenüber: Das Tanzen verspricht einen Zugang zum Transzendenten. Wo das allerdings in vermeintlich säkularen Zeiten auch die rhythmischen Bewegungen zu profaner Unterhaltungsmusik versprechen, besinnt sich die Kirche dann doch auf ihre Lustfeindschaft.
Das paradoxe Verhältnis von Tanz und Glaube illustriert eine berühmte Szene aus dem Film »Das Leben des Brian« der Komikergruppe Monty Python von 1979: »Matthias, Sohn des Dagronominus Gasa, wird beschuldigt, den Namen unseres allmächtigen Herrn geschmäht zu haben. (...) Und wirst somit zu Tode gesteinigt!« – »Hören Sie, ich weiß nicht, was daran Blasphemie sein soll, wenn man nur Jehova sagt!« – »Du machst alles nur noch schlimmer für dich, Elender.« – »Noch schlimmer? Was kann denn noch schlimmer sein, hä?« Und Matthias fängt an, hämisch vor der Menge wild hüpfend zu tanzen und ruft immer wieder: »Jehova! Jehova! Jehova!«

Der Tanz ist hier Provokation, groteske Bewegung, die den Irrsinn religiöser Gesetzesmacht karikiert – und gleichwohl ist der Tanz gerade als Karikatur Ausdruck absolut hilf- und heilloser Ohnmacht. Das Motiv taucht immer wieder auf, gehört etwa zur Selbstinszenierung der Militanz bei ausweglosen Demonstrationssituationen: versprengte Einzelkämpfer tanzen vor der Polizeikette, schneiden alberne Grimassen. Tanz ist hier eine Belustigung ohne Lust, eine trostlose, peinliche Eulenspiegelei. Auch Edgar Allan Poe hat dem mit seiner Geschichte vom Hüpf-Frosch, einem sich grausam rächenden Narren, Ausdruck verliehen, und bekannt ist freilich aus dem Märchen der Grimms das auf einem Bein um das Feuer springende Rumpelstilzchen: »Ach, wie gut ist, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!« Und als dann die Königin eben das herausbekam und dem Rumpelstilzchen seinen Namen sagte, geriet das Männlein außer sich vor Wut und »riss sich selbst mitten entzwei«. Auch das Rumpelstilzchen ist im verzweifelten Zorn blasphemisch und schreit immer wieder: »Das hat Dir der Teufel gesagt!« Dabei verkörpert das Rumpelstilzchen – »ein gar zu lächerliches Männlein« – ja selbst den entstellten Teufel.
Ohnehin hat der Tanz oft, vielleicht sogar immer, etwas Teuflisches. Und auch deshalb ist er den monotheistischen Religionen suspekt, vor allem dann, wenn diese Religionen gerade dabei sind, ihren einen Gott zu verlieren oder ihn schon längst verloren haben, dies aber – sei es aus politischen, sei es aus ökonomischen (zum Beispiel fiskalischen, etwa kirchensteuerlichen) Gründen – nicht zugeben wollen. Anders gesagt: Gerade wo der Religion ihr eigener Glaube ans Transzendente abhanden gekommen ist und Gottesvertrauen mit Gewalt erzwungen statt Weltvertrauen im Gebet gelehrt wird, gerät Tanzen nachgerade zum antiklerikalen Angriff. Die Tänzer-Crew aus Bagdad (Jungle World 6/2013), die schon mehrfach verprügelt wurde, weil sie mit HipHop-Breakdance und Michael-Jackson-Moonwalk »den Islam beleidigt«, ist ein Beispiel davon.
Auch für viele Christen, insbesondere die eingefleischten, ist die Fleischeslust des Tanzens am Karfreitag oder zu anderen Traueranlässen des Kirchenkalenders eine gotteslästerliche Ungeheuerlichkeit sondergleichen. In Zeiten, in denen ausgerechnet die reaktionären und nihilistischen Seiten der Religionen, nämlich alles mit Schuld, Verzicht oder Furcht hoch Verbundene und heilig Verbrämte, wieder beliebt sind, verwundert es kaum, dass Forderungen wie die, am Karfreitag die Diskotheken geschlossen zu halten, öffentlich durchaus größeren Zuspruch finden.
Freilich ist das nicht mehr wie Ende der sechziger Jahre, als aufgebrachte Eltern im Bible Belt ihre tanzenden Kinder von den Doors-Konzerten durch die Straßen nach Hause geprügelt haben – schließlich bürokratisiert sich in der verwalteten Welt auch der Autoritarismus offener Brutalität. Doch bleibt die gegenaufklärerische Kontinuität darin gewahrt, dass sich die antikörperliche Wut der Kirche ausgerechnet auf die körperlichen Freuden des Tanzens bezieht und weniger etwa auf Gaumenfreuden oder die pornographische Darstellung von Körpern: Es könnte zum Karfreitag ja auch gefordert sein, Eisessen zu verbieten und Unterwäschewerbung abzuhängen.
Der Tanz ist vom Prinzip her, auch als kollektiver Ritualtanz, ein subjektiver Akt der Befreiung, eine Selbstermächtigung, nach der sich der Mensch in der Bewegung gottgleich oder zumindest Gott nah erfährt. Und je weniger eine Religion auf den Eigensinn der Einzelnen vertraut, je mehr sie Gott nicht zur Kraft der Menschen erklärt, sondern zur Sache der Kirche macht und also die Menschen im Glauben (und damit in der körperlichen Erfahrung des Glaubens) entmündigt, desto größer das Unbehagen, das Ressentiment, die Verbotsgewalt, wenn die Gemeinde zu Tanzen anfängt oder sich überhaupt nur rhythmisch bewegt. Anders ist das im Hinduismus und Buddhismus (siehe etwa den balinesischen Tempeltanz), anders ist das aber auch bei den häretischen Strömungen des Christentums, die im Glauben Geist und Körper nicht trennen wollen: Dass aus dem Gospel der Soul als gleichwohl sehr körperbewegte und -bewegende Spiritualität hervorging, ist mehr als nur exemplarisch.

Noch bedrohlicher für die regressive und lustfeindliche Kirche ist der Tanz vor allem deshalb, weil er etwas Religiöses bietet, ohne den Menschen auf die Religion zu verpflichten: Gerade das Göttliche kommt im Tanz ohne Gott aus, ist – nach Ernst Blochs Formulierung – ein Transzendieren ohne Transzendenz. Im Tanzen genießt man die eigene Existenz. Im Tanzen, ja schon in der tanzenden Bewegung, wie Kinder sie zeigen, macht der Mensch die Erfahrung, ein Individuum zu sein. Das ist freilich eine Erfahrung, die ihm später wieder genommen wird, und zwar, wie die Geschichte bis heute beweist, zum großen Teil von der Kirche.
Dieser religiöse Impuls, der zugleich eine Abkehr von der Religion ist, charakterisiert noch immer die Dialektik des Tanzens. Ethnologisch wird das Tanzen selbst als magisches Handeln interpretiert: Tanzen gibt Kraft, aktiviert die Kraft oder vermag, Kraft zu übertragen. Auch damit bleibt das Tanzen gefährlich, weil uneindeutig – eine Tradition, die über das Wechselspiel des Apollinischen und Dionysischen geradewegs von der Antike bis in die gegenwärtigen populären Tanzmusikkulturen hineinreicht: Tanz als Abwehr und Anlockung – sei es der bösen, sei es der guten Geister. Die ekstatische Steigerungsmöglichkeit scheint dabei unbegrenzt: Bis zur hysterischen Selbstüberhöhung löst sich der Tanz im Rausch auf – wenn nicht sowieso schon Drogen die Tanzfreude physisch und psychisch unterstützen. Jeder Rave – etymologisch ist der »Raver« der wahnsinnige, ins Delirium entrückte Träumer – kulminiert in der Unentschiedenheit, ob das Leben ergriffen oder weggeworfen, vernichtet wird.

Dan Graham hat Anfang der achtziger Jahre mit seiner Videoarbeit »Rock My Religion« eindrucksvoll die fließenden Übergänge zwischen der Shaker-Religion und Rock-Kultur nachgezeichnet: Bis zum Pogo reichen die Einflüsse des rituellen Schütteltanzes der Anhänger dieser US-amerikanischen christlichen Freikirche. Kaum eine andere Glaubensgemeinschaft hat so nachhaltig das Tanzen als religiöse Praxis etabliert: Tanzen ist Gebet. Ausgehend von den Shakern erscheint konsequent der Rock ’n’ Roll als die säkularisierte Bewegungsform – ohne das Sakrale preiszugeben, im Gegenteil: Die Kirche kann nur als Angriff wahrnehmen, dass nunmehr Rock, Pop, Punk und später dann auch noch Techno viel überzeugender, weil körperlicher, also somatisch-authentischer im Tanz dem Menschen göttliche Kraft verleihen können. Insofern ist Tanzen eine Säkularisierung – gerade weil er auf das magische Ritual zurückfällt. Der profane Tanz bleibt so in sakraler Konkurrenz zur Religion. Nach dem Rock ’n’ Roll der fünfziger Jahre hatte das einen nächsten Höhepunkte in der Disco-Bewegung der Siebziger: Disco als religiöse Laienbewegung; jenseits aller Kirchenkonfession wird die Konfession des Individualismus gefeiert. Gerade die Tanzkulturen der Siebziger und später gaben den Körpern imaginäre Räume realer Lüste: Eine Sexualisierung der Freizeitkultur, vor allem in den Discotänzen, konterkarierte den monotonen fordistischen Fabrikalltag ebenso wie die Reste der Großreligionen. Nicht von ungefähr kommt, dass in den Siebzigern dann auch tanzfreudige Sekten, inklusive Ashram, Osho-Sauna und -Diskotheken, beliebt waren.
Tanzvergnügen als offizieller Bestandteil einer ubiquitären Freizeitkultur versprachen nicht nur eine religiöse Wiederentdeckung der körperlichen Bewegungslust jenseits der Religion, sondern – und das bedeutete den Frontalangriff auf die Kirche – die Verschmelzung dieser sakralen Lust mit der Libido und dem sexuellen Begehren, und zwar, auch hier entscheidend, im Zeichen des Glaubens, des Heiligen und Göttlichen. Das Saturday Night Fever ist selbstverständlich ein saturnisches Fieber.

Ende der siebziger Jahre, unter dem Vorzeichen der Postmoderne, hatte auch die Religion ihre letzten Reserven einer Metaerzählung verbraucht: Während außerhalb des christlichen Einflussbereiches der Islam sich immer mehr als (vor allem politisch) machtvolle Gegenaufklärung konsolidierte (iranische Revolution), blühte die Popkultur als neue universelle Ersatzreligion: Konsum, Lust, Freizeit ersetzten das Credo von Glaube, Liebe, Hoffnung. Gott ist tot, die Religion hat ihre heilende, rettende Kraft verloren. Es schien, als würde das Schicksal der Einzelnen auf der Tanzfläche entschieden. Dafür waren alle blasphemischen oder sonstwie unkorrekten, beleidigenden Parolen gerade recht. Die Tanzwut übersteigerte sich in der ohnmächtig-aggressiven Ironie: Als die jungen Leute mit den Sex Pistols zu Sätzen wie »I am an Anti-Christ« Pogo tanzten, war Little Richard schon längst und wieder einmal als Laienprediger unterwegs. Rock’n’Roll ist eine Teufelsmusik. Rock’n’Roll ist Gospel. Gruppen wie DAF drehten die postmoderne Rhythmusmaschine noch weiter: »Geh in die Knie / Und dreh Dich nach rechts / Und dreh Dich nach links / Klatsch in die Hände / Und tanz den Adolf Hitler / Und tanz den Mussolini / Und jetzt den Jesus Christus …« Der Rest ist zusammengereimt: »Klatsch in die Hände / Und tanz den Kommunismus.«
Heute heißt das: »Tanzt den Karfreitag!« Denn, wie Marx schon wusste: »Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!«