Flüchtlinge starben an der griechischen EU-Außengrenze

Flucht in den Tod

Mitte März sind wieder Flüchtlinge an der EU-Außengrenze vor der griechischen Insel Lesbos ertrunken. Die Flucht nach Europa wird immer gefährlicher.

»Ich will nur den Körper meines Sohnes finden. Ich will nicht, dass die Fische im Meer ihn auffressen«, sagt Ali. Der Syrer sitzt auf dem Bett seines Hotelzimmers auf der Insel Lesbos und starrt verzweifelt aus dem Fenster. Seine Finger verkrampfen sich aus Nervosität ineinander, während er vom letzten Gespräch mit seinem 14jährigen Sohn erzählt. »Er rief mich an und sagte, dass sie von der Küste aufgebrochen seien und in einer halben, spätestens einer Stunde in Lesbos ankämen.« Es war in der Nacht vom 6. auf den 7. März. Ali wartete an dem Abend vergeblich auf eine Nachricht seines Sohns. Schließlich fuhr er selbst nach Lesbos und zur Nachbarinsel Chios, um dort nach Spuren von ihm zu suchen. Obwohl Ali die Polizei und die Küstenwache sofort über die Vermissten auf See benachrichtigte, wurde erst Tage später mit der Suche begonnen.

Der Unternehmer Ali wohnt seit Jahren in Griechenland. Sein Sohn hatte ihn mehrmals besucht, Visa habe er ihm in der griechischen Botschaft in Damaskus besorgt, erzählt Ali. Wegen des Kriegs floh sein Sohn mit seiner Großmutter und seiner Tante nach Ägypten. Ali versuchte dann erfolglos, bei der dortigen Botschaft ein Visum für ihn zu bekommen. Als einziger Weg nach Griechenland blieb die Flucht mit dem Schlauchboot. Gemeinsam mit dem Jugendlichen reiste eine Familie mit drei kleinen Kindern. Sie hatte bereits einige Jahre in Griechenland gelebt und war vor einiger Zeit wegen der Wirtschaftskrise nach Syrien zurückgekehrt. Mit der Zuspitzung des Kriegs wollte sie gezwungenermaßen wieder nach Griechenland fliehen – als Papierlose, obwohl sogar zwei der Kinder dort geboren wurden. Die restriktive Rechtsprechung hinsichtlich des Erwerbs der griechischen Staatsbürgerschaft für Migrantenkinder hat sich in ihrem Fall als tödlich erwiesen.
Unter den vermutlich neun Toten des Schiffsunglücks von Mitte März befand sich auch ein 17jähriges Mädchen aus Syrerin, dessen Mann mit Aufenthaltserlaubnis in Deutschland lebt. Da es für sie als minderjährige Ehefrau keine Möglichkeit zur Familienzusammenführung gab, flüchtete sie zusammen mit ihrem Bruder aus Syrien, sie ertranken auf dem gefährlichen Weg. Visaanträge von Syrern mit Angehö­rigen in Deutschland werden bislang meist rigoros abgelehnt, so Pro Asyl. Innenminister Hans-Peter Friedrich kündigte am 20. März auf der Bundespressekonferenz die Aufnahme von etwa 5 000 Flüchtlingen aus Syrien an. Die ersten Flüchtlinge sollen im Juni nach Deutschland kommen. Pro Asyl forderte erst kürzlich, Familienangehörige von in Deutschland lebenden Syrern auch außerhalb eines Kontingents aufzunehmen sowie in Griechenland und Bulgarien gestrandeten Syrern die Weiterreise nach Deutschland zu erlauben, wenn die Betroffenen Anknüpfungspunkte in Deutschland haben.
Es sind jedoch nicht nur syrische Flüchtlinge, die ihr Leben verlieren beim Versuch, ihre Familien in Deutschland oder in anderen Ländern Europas zu erreichen. Im Dezember verlor ein aus Hamburg stammender Afghane seinen Vater bei einem anderen Schiffsunglück vor Lesbos. Es hatte keinen rechtlichen Weg für den Vater gegeben, zu seiner Familie in Deutschland zu ziehen. So blieb nur der unsichere Fluchtweg über die türkisch-griechische Grenze. Auf der Suche nach seinem verschollenen Vater sei der junge Afghane von den griechischen Behörden wiederholt bei seiner Reise ins Landesinnere behindert worden, da sie die Echtheit seiner deutschen Aufenthaltspapiere anzweifelten, erzählen Mitglieder des Netzwerks »Welcome to Europe«, die ihn auf Lesbos getroffen haben. Bei einem weiteren Schiffsunglück vor Lesbos im Dezember 2009 starb eine afghanische Frau mit ihren beiden Kindern. Sie war auf dem Weg zu ihrem Ehemann in Deutschland.
Griechenland bekommt derweil von der EU immer mehr Geld für die »Verwaltung« der Flüchtlings- und Migrationsströme, mehr als 370 Millionen Euro waren es für die vergangenen sechs Jahre. Für 2014 bis 2020 soll die Summe auf 500 Millionen Euro aufgestockt werden. NGOs kritisieren, dass das Geld nun vom Ministerium für Bürgerschutz verwaltet werden soll, dem die Polizei untersteht. Parallel zur Flüchtlingsabwehr soll eine menschenwürdige Migrations- und Flüchtlingspolitik etabliert werden. Bereits seit Jahren ist dies nur eine leere Versprechung.

Bislang sieht man in Griechenland daher in den Bereichen Asylpolitik und Versorgung und Integration von Flüchtlingen und anderen gefährdeten Gruppen kaum Fortschritte. Stattdessen entstehen überall Gefängnisse und Grenzzäune. Die Flucht in die Festung Europa wird gefährlicher und endet immer öfter tödlich. Seit vergangenem Herbst wurden allein in der Ägäis offiziell drei Schiffsunglücke und mehr als 90 tote Flüchtlinge registriert. Flüchtlinge werfen den griechischen Behörden illegale Abwehrpraktiken auf hoher See vor, die die Überfahrt noch riskanter machen.
Mohamad ist vor drei Tagen mit anderen Flüchtlingen auf Lesbos angekommen. Es war sein fünfter Versuch, Europa zu erreichen, sagt er. Beim vierten Versuch vor ein paar Wochen habe er Erfahrung mit einem solchen illegalen Abwehrversuch, einem sogenannten push back, gemacht. »Die Beamten der griechischen Küstenwache haben uns erwischt und uns den Motor weggenommen. Sie haben uns an Bord ihres Schiffes geholt und unser Schlauchboot hinten festgemacht. Kurze Zeit später haben sie uns wieder ins Schlauchboot gesetzt und uns ein Paddel gegeben.« Die Flüchtlinge hätten dann verstanden, dass sie wieder in türkischem Gewässer sind. »Nur mit dem Paddel und den bloßen Händen haben wir es dann geschafft, die türkische Küste zu erreichen », erzählt Mohamad. Unter den 30 Passagieren des Schlauchboots seien auch kleine Kinder und verletzte afghanische Flüchtlinge gewesen.
Ähnliche Erzählungen hört man immer öfter von neuangekommenen Flüchtlingen auf Lesbos. Manchmal berichten sie sogar von Warnschüssen der Beamten oder gar, dass diese ihre Gewehre drohend auf die Flüchtlinge gerichtet hätten. Die griechische Küstenwache sowie das Pressebüro der europäischen Grenzschutzagentur Frontex in Warschau dementieren dies. Das Retten von Menschenleben habe immer absolute Priorität auf dem Meer, so die Pressesprecherin. Im vorigen Jahr wurde Frontex über zwei Fälle von push back vor Evros informiert. Den ersten meldeten die Flüchtlinge selbst, den zweiten Gastoffiziere von Frontex. Die Agentur hakte daraufhin bei den griechischen Behörden nach. Nach internen Ermittlungen konnten diese Behauptungen nicht als wahrheitsgemäß erwiesen werden, so die Antwort von den griechischen Behörden.
Hinter dem Steuer des Schiffs der griechischen Küstenwache, das gerade eine weitere Patrouille in der Meerenge zwischen Lesbos und der türkischen Küste beginnt, sitzt ein kräftiger Mann in blauer Uniform. Der Kapitän zeigt stolz auf die Wärmebildkamera, die sich rechts vor seinem Sitz befindet. »Das ist unsere stärkste Waffe. Dadurch kann man sehr schnell illegale Einwanderer lokalisieren und im Falle eines Schiffsunglücks im Meer Überlebende finden«, sagt er, seinen Namen will er nicht nennen. Am häufigsten träfen er und seine Kollegen auf hoher See zurzeit Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan an, die mit kleinen, überfüllten Schlauchbooten die griechische Küste erreichen wollen, erzählt er. »Falls sie sich auf der Grenzlinie befinden, sagen wir: ›Alter your course, you are proceeding Greek territory water.‹ Man kann sie auch warnen, dass man auf sie schießen wird. Wir sagen halt das, was wir sagen müssen.« Die Beamten dürften jedoch ihre Waffen nicht einsetzen, wenn sie es mit Unbewaffneten zu tun haben, betont der Kapitän. Die Afghanen wüssten dies bereits und befolgten die Anweisungen nicht. »Die Syrer, die noch nicht wissen, wie es ist, kehren zurück, wenn wir sie erschrecken«, sagt er.

Ein ausführliches Interview mil Ali aus Syrien gibt es hier.