Prozess in Bonn wegen der Kunduz-Affäre

Kollateralschaden vor Gericht

Als die Bundeswehr in Afghanistan zwei Tanklaster bombardieren ließ, starben viele Zivilisten. Dreieinhalb Jahre nach dem Luftangriff von Kunduz hat nun vor dem Bonner Landgericht ein Zivilprozess gegen die Bundesregierung begonnen, Angehörige der Opfer klagen auf eine Entschädigung.

Einen »Kriegsverbrecher« nennt der Bremer Rechtsanwalt Karim Popal den Bundeswehroffizier Georg Klein. Am 4. September 2009 hatte Klein einen Bombenangriff auf zwei von Taliban nahe der afghanischen Stadt Kunduz geraubte Tanklaster befohlen. Die Attacke forderte mehr als 140 Todesopfer – darunter viele Kinder und Jugendliche, die herbeigeeilt waren, um sich aus den in einem Flussbett feststeckenden LKW Sprit abzuzapfen. Popal vertritt 79 ihrer Angehörigen und fordert für sie insgesamt 3,3 Millionen Euro Schadensersatz. Mit der vom Bundesverteidigungsministerium explizit »ohne Anerkennung einer Rechtspflicht« gezahlten Summe von rund 350 000 Euro will er sich nicht abfinden.

Ein erster Prozess in dieser Sache wurde am 20. März vor der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bonn eröffnet. Im Namen zweier Mandanten verlangen Popal und sein Kollege Peter Derleder zunächst insgesamt 90 000 Euro – 40 000 Euro für Abdul Hannan, der bei dem Bombardement zwei Söhne verlor, und 50 000 Euro für Qureisha Rauf, die durch den Bombenangriff zur Witwe wurde und seither ihre sechs Kinder alleine durchbringen muss. Zwar gibt es bisher keine abschließende Entscheidung, allerdings brachte bereits der erste Verhandlungstag zwei Ergebnisse: Zum einen ließ das Gericht die Klage gegen die Bundes­republik Deutschland zu, die vom Bundesverteidigungsministerium (BMVg) als der vorgesetzten Behörde des Befehlshabers Klein repräsentiert wird. Zum anderen scheint das BMVg nicht an einer gütlichen Einigung mit den Opfern interessiert zu sein. So wies der Vertreter des Ministeriums, Mark Zimmer, einen Vergleich brüsk zurück. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, verlangte er von den Klägern unter anderem, »erst einmal (zu) beweisen, dass die Toten wirklich ihre Familienangehörigen waren«, schließlich seien »Schummeleien« in Afghanistan an der Tagesordnung.
Die Bonner Zivilkammer wird sich an den kommenden Verhandlungstagen indes wohl weniger mit der Klärung genealogischer Fragen befassen. Ihren Angaben zufolge ist vielmehr zu untersuchen, ob »der von einem Offizier der Bundeswehr angeforderte Bombenabwurf durch zwei Kampfflugzeuge der US-Luftstreitkräfte gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen« hat und ob die Bundesrepublik als Dienstherrin eben dieses Offiziers daher »unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung (…) zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld verpflichtet« ist. Popal hat seine Auffassung hierzu unter anderem in einem Interview mit der Deutschen Welle deutlich gemacht: »Rechtlich ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet zu zahlen. Es gibt ein internationales Abkommen, das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte. Alle Länder der Welt haben es unterschrieben, haben es ratifiziert und haben sich verpflichtet: ›Wenn wir Kriege führen, schützen wir zivile Opfer. Wenn wir zivile Opfer in Gefahr sehen, halten wir uns fern von kriegerischer Handlung.‹ Dieses Zusatzprotokoll ist eindeutig verletzt worden durch den Befehl von Oberst Klein.«

Für Popals Einschätzung sprechen nicht zuletzt die mittlerweile bekannten Begleitumstände des Luftangriffs vom September 2009. Schon die Gewährung der »Luftunterstützung« durch US-amerikanische Kampfjets kam unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zustande: Der Befehlshaber Klein meldete schlicht, seine Truppe habe »direkten Feindkontakt« – obwohl dies nachweislich nicht der Fall war. Auch das mehrfach wiederholte Angebot der US-Bomberbesatzungen, die zu den geraubten Tanklastern geeilten Zivilisten durch Tiefflüge zu warnen, schlug Klein aus, wollte er doch nach eigenem Bekunden möglichst viele Taliban »vernichten«. Die von ihm zwecks Legitimation der mörderischen Attacke angeführte Begründung, die Aufständischen hätten die geraubten LKW zu »rollenden Bomben« umfunktionieren wollen, war von PR-Experten des Bundesverteidigungsministeriums vorformuliert worden. Gemäß der von ihnen empfohlenen »Sprachregelung« sollte verschwiegen werden, dass die in einem Flussbett feststeckenden Tankwagen manövrierunfähig waren (Jungle World 39/09, 50/09 und 12/10).
Umgekehrt kann das beklagte Verteidigungsministerium gewichtige Argumente zur Entlastung Kleins vorbringen. So wies der vom BMVg beauftragte Rechtsanwalt Mark Zimmer schon am ersten Prozesstag darauf hin, dass die Bundesanwaltschaft bereits im April 2010 ihre Ermittlungen gegen den Bundeswehroffizier eingestellt habe.
Die Anordnung des Bombenabwurfs erfülle nicht den Tatbestand eines Verstoßes gegen im Völkerstrafgesetzbuch geächtete Methoden der Kriegführung, hatte die Behörde seinerzeit geurteilt – und dem Militär eine tadellose Amtsführung bescheinigt: »Oberst Klein, der sich der Verpflichtung bewusst war, zivile Opfer soweit irgend möglich zu vermeiden, hat (…) keine ihm gebotene und praktikable Aufklärung unterlassen. Nach Ausschöpfung aller ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen war in der konkreten zeitkritischen militärischen Situation vielmehr eine weitere Aufklärung nicht möglich, so dass er nach den ihm vorliegenden Informationen nicht mit der Anwesenheit geschützter Zivilisten rechnen musste.«

Ob das Verteidigungsministerium indes auch auf die Unterstützung des Vorsitzenden der Bonner Zivilkammer, Heinz Sonnenberger, rechnen kann, ist ungewiss. Einerseits hat der Richter schon einmal gegen die zivilen Opfer eines fatalen Bombardements entschieden: Ende 2003 erklärte Sonnenberger, dass den Betroffenen des Nato-Luftangriffs auf eine Brücke in der serbischen Kleinstadt Varvarin kein Schadensersatz zustehe; die Attacke vom 30. Mai 1999 hatte zehn Tote und 30 zum Teil schwer Verletzte gefordert. Entschädigungsleistungen seien grundsätzlich nur zwischen Staaten möglich, denn »weder die Genfer Konvention noch deren Zusatzprotokolle« stellten »ein Verfahren zur Verfügung, das dem Einzelnen die Durchsetzung etwaiger individu­eller Ansprüche ermöglichen würde«, hieß es in der Urteilsbegründung.
Auf genau diese Zusatzprotokolle, die den Schutz von Zivilisten vor Kriegshandlungen regeln, aber berufen sich nun die Anwälte der Opfer des Massakers von Kunduz. Andererseits legt Sonnenberger nach eigenem Bekunden Wert darauf, zwischen den Fällen »Varvarin« und »Kunduz« zu differenzieren: »Bei dem Angriff auf die Brücke in Varvarin hat zwischen Deutschland und dem ehemaligen Jugoslawien ein Krieg geherrscht. Dass das Bombardement von Kunduz eine Kriegshandlung gegen einen fremden Staat war, kann man dagegen so einfach nicht sagen. Deutschland kämpft ja gegen Aufständische – und zwar auf der Seite der afghanischen Regierung.«
Unabhängig davon, wie das Verfahren vor dem Bonner Landgericht letztlich ausgehen wird – ein politisches Zeichen hat das Verteidigungsministerium bereits gesetzt: Es ernannte den für das Massaker von Kunduz verantwortlichen Georg Klein zum »Abteilungsleiter Personalführung Unteroffiziere / Mannschaften« seines neu geschaffenen »Bundesamts für Personalmanagement« und beförderte ihn zum Brigadegeneral.