Die Regierungskrise in Albanien

Nur Pässe gibt es im Überfluss

In Albanien ist die sozialistische Partei LSI aus der Regierungskoalition ausgetreten. Die politische Situation ist vor den Wahlen im Juni angespannt, auch ökonomisch gibt es Probleme.

Wenn am 23. Juni in Albanien Parlamentswahlen stattfinden, endet eine Legislaturperiode, die von scharfen Auseinandersetzungen in einer extrem polarisierten Parteienlandschaft geprägt war. Dabei stehen sich die Demokratische Partei (PD) unter Sali Berisha, die ihre Wurzeln in den Studentenprotesten hat, in deren Folge 1992 der albanische Realsozialismus endete, und die aus der Albanischen Partei der Arbeit (PPSh) hervorgegan­gene Sozialistische Partei (PS) unter Edi Rama in herzlicher Feindschaft gegenüber. Dazwischen bewegen sich kleinere Abspaltungen der beiden großen Parteien, wie die Sozialistische Bewegung für Integration (LSI), und Parteien ethnischer Minderheiten. Nachdem die PD die Parlamentswahlen im Juni 2009 für sich entschieden hatte, erkannte die PS das Wahlergebnis wegen der vielen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen nicht an und boykottierte bis Ende 2011 die parlamentarische Mitarbeit. Dies geschah durchaus effektiv, da wegen der Mehrheitsverhältnisse im Parlament einige wichtige Gesetzesvorhaben die Zustimmung der Opposition erfordern. Den Höhepunkt erreichte der Konflikt zwischen den Parteien, als es am 21. Januar 2011 bei einer von der PS organisierten Demons­tration für den Rücktritt Berishas vom Posten des Ministerpräsidenten zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam und vier Demonstranten erschossen wurden. Vor allem dem starken und steten Druck von der EU, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und den USA auf alle lokalen politischen Akteure ist es zu verdanken, dass die Auseinandersetzungen nicht weiter eskalierten.
Derzeit blockiert die PS wegen eines Streits um die Regionalverwaltung in der Stadt Fier drei Gesetzesvorhaben im Bereich der öffentlichen Verwaltung, des Gerichtswesens und der Parlamentsorganisation. Diese sollen Vorgaben der EU umsetzen, die erfüllt werden müssen, damit das Land den Status eines EU-Beitrittskandidaten erlangen kann. Da die EU Albanien im Dezember erneut den Kandidatenstatus verweigert hat, behauptet nun die Regierung, mit der verweigerten Zustimmung zu den »drei Integrationsgesetzen« gefährde die PS den EU-Beitritt. Dass vor allem ökonomische Probleme, die fehlende Rechtsstaatlichkeit, die verbreitete Korruption und die mangelhaften demokratischen Strukturen Grund für die Verweigerung des Kandidatenstatus sind, fällt dabei allerdings unter den Tisch.

Angesichts des Patts zwischen den zwei großen Parteien hängt es von den kleineren Parteien ab, wer die nächste Regierung bilden wird. Und so gehen viele Analytiker davon aus, dass die Parlamentswahlen eigentlich schon in der ersten Aprilwoche entschieden wurden. Da verließ die LSI, die bisher mit der PD koalierte, die Regierung und kündigte an, mit der PS eine Wahlkoalition zu bilden. Schon zu diesem Zeitpunkt hatten beide Parteien zusammen eine Mehrheit im Parlament. Eine sofortige Ablösung der Regierung konnte nur verhindert werden, weil drei Abgeordnete der PS zur PD wechselten. Sicher ist, dass auch im Falle eines Wahlsiegs der PS der Konflikt mit der PD andauern wird, nur dann eben mit vertauschten Rollen.
Doch nicht nur die politische Lage ist düster. Zwar konnte die Regierung lange mit gewissem Recht behaupten, dass die gegenwärtige Wirtschaftskrise Albanien nicht betreffe, weil es kaum in die internationale Finanzwirtschaft eingebunden sei und sich die Wirtschaft des Landes hauptsächlich auf die Binnennachfrage stütze. Derartige Aussagen übersahen jedoch, in welchem Maße gerade die Binnennachfrage von den Rücküberweisungen in anderen EU-Ländern lebender Albaner und damit von der wirtschaftlichen Entwicklung in den Nachbarländern abhängt. Mit der ökonomischen Krise in Italien und Griechenland, zwei Hauptzielländern albanischer Arbeitsemigranten, gingen im vorigen Jahr auch die Rücküberweisungen von dort stark zurück. Damit ist die Krise nun auch in Albanien angekommen.
Der Tourismus, auf dem viele ökonomische Hoffnungen im Land ruhen, entwickelt sich ebenfalls nicht wie erhofft. Zwar erfreut sich Albanien wegen seiner für Ausländer guten Sicherheitslage, der beeindruckenden Landschaft und eines selbst für südosteuropäische Verhältnisse niedrigen Preisniveaus einer wachsenden Beliebtheit bei Rucksackreisenden. Doch der große Ansturm westlicher Pauschaltouristen blieb bisher aus, ein großer Teil der Touristen kommt aus dem Kosovo. Aber auch das Kosovo ist vom Einbruch der Rücküberweisungen betroffen, auch hier geht die Binnennachfrage zurück. Viele der vor kurzem schnell und billig hochgezogenen Hotels stehen nun leer und verschandeln neben den unzähligen Bunkern des stalinistischen Diktators Enver Hoxhas die Küstenlandschaft.

Angesichts dieser desaströsen Lage beruft man sich gern auf die angeblich glorreichere Vergangenheit. Am 28. November 2012 wurde in Albanien, im Kosovo und in den albanischen Siedlungsgebieten in Montenegro und Mazedonien der 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Albaniens vom Osmanischen Reich gefeiert. Bei seiner Rede zum Unabhängigkeitstag im südalbanischen Vlora, dem Ort der historischen Unabhängigkeitserklärung, sprach Berisha von einem Albanien von Preveza bis Preševo und von Skopje bis Podgorica. In Anbetracht dessen, dass diese Orte in Griechenland, Serbien, Mazedonien und Montenegro liegen, und aufgrund der Erfahrungen mit bewaffneten albanischen separatistischen Organisationen im Kosovo, im Preševo-Tal und in Mazedonien rief diese Rede große Besorgnis vor allem in Griechenland und Mazedonien hervor. Zwar erklärte eine Regierungssprecherin, der Ministerpräsident habe sich damit auf das historische Albanien bezogen. Doch die kurz darauf folgende Ankündigung Berishas, im Falle eines Wahlsieges der PD das geltende Staatsbürgerschaftsgesetz – eine moderne Mischung aus staatsbürgerlichem Abstammungs- und Bodenrecht – zu ändern, und allen ethnischen Albanern das Recht auf einen albanischen Pass einzuräumen, war nicht geeignet den Konflikt zu entschärfen.

Ob aber die PD tatsächlich von dieser großalbanischen Propaganda profitiert oder ob andere dies tun werden, ist unsicher. Mit der im Fußballmilieu entstandenen »Allianz Schwarz und Rot« (AK), deren Name auf die Farben der albanischen Flagge anspielt, erschüttert eine neue Organisation das etablierte Parteiensystem. Im März 2012 konstituierte sich die AK als politische Partei, mit dem Ziel der Teilnahme an den Parlamentswahlen. Mit einer Mischung aus jugendbewegtem Aktivismus auf der Straße und der Teilnahme am parlamentarischen Prozess einerseits und der programmatischen Verbindung eines aggressiven panalbanischen Nationalismus mit sozialpolitischen Forderungen andererseits ähnelt die AK stark der kosovarischen Bewegung »Vetëvendosje!« (Selbstbestimmung). Diese spricht sich sowohl gegen jeden Kompromiss mit Serbien als auch gegen die Protektoratsherrschaft von EU und Uno im Kosovo aus und wirft der gegenwärtigen Regierung des Kosovo vor, etwa durch die Privatisierung der Stromversorgung den Ausverkauf nationaler Interessen zu betreiben. Wie »Vetëvendosje!« wendet sich auch die AK vor allem an Jugendliche. Unter dem Slogan »Eine Sprache – Eine Nation – Eine Partei« wirbt sie nicht nur in Albanien und den Gebieten mit albanischen Minderheiten in den Nachbarländern erfolgreich um Anhänger, sondern auch bei in anderen EU-Ländern lebenden Albanern. Mit dieser Art des Panalbanismus stellt die AK nicht nur ein neues Phänomen in der derzeitigen albanischen Parteienlandschaft, sondern überhaupt in der Geschichte des albanischen Nationalismus dar. Ihr Abschneiden dürfte deshalb eines der interessantesten Ergebnisse der kommenden Wahlen sein.