Die Politik des deutschen Konzerns Thyssen-Krupp in Brasilien

Toxisch wie Krupp-Stahl

Das Stahlwerk des Konzerns Thyssen-Krupp nahe Rio de Janeiro soll verkauft werden. Für die von ihm verursachten gravierenden ökologischen Schäden will das Unternehmen nicht aufkommen.

Im Februar geht die Regenzeit in Brasilien für gewöhnlich ihrem Ende entgegen. Doch in Santa Cruz, einem Stadtteil im äußersten Westen Rio de Janeiros, setzten in den vergangenen Wochen erneut ungewöhnliche Niederschläge ein, die menschengemacht sind. »Am 24. Februar kam der Silberregen zuletzt zurück«, erzählt die Anwohnerin Magarete. »Manchmal kommt er wie ein Schwall, manchmal ist er kaum zu sehen. Diesmal bedeckte er die Dächer und Gärten der Nachbarschaft mit feinem Glimmer.«
Was zunächst nach magischem Realismus klingt, gehört eher in die Sparte Endzeitroman. Magaretes Haus steht keine 300 Meter entfernt von einem der größten Stahlwerke der Welt, der Thyssen-Krupp Companhia Siderúrgica do Atlântico (TK-CSA). Vom Baubeginn im Jahr 2006 an gab es Zweifel an dem Mammutprojekt, erinnert sich Karina Kato vom Institut »Politische Alternativen für den Cono Sur« (Pacs). Dass sich eine Hütte mit Koksöfen und Tiefseehafen, die jährlich fünf Millionen Tonnen Stahlbrammen produzieren sollte, tatsächlich problemlos in die von mehr als 200 000 Menschen besiedelte Bucht von Sepetiba einfügen würde, war äußerst fraglich. »Doch was die Bauherren dann veranstalteten, übertraf alle Befürchtungen«, sagt Kato: »Gefälschte Unterschriften unter Umweltverträglichkeitsstudien, mangelhaftes Controlling von Subunternehmen, illegale Beschäftigung von 120 Arbeitskräften aus China, ungenehmigte Konstruktion von Notgruben und einer Seebrücke.« Dennoch war die politische Unterstützung in Brasilien lange Zeit ungebrochen, »denn die riesige Stahlhütte war auch ein Vorzeigeprojekt, das Rios Ruf als Weltstadt festigen und das Interesse weiterer Investoren wecken sollte«, so Kato.

Umso peinlicher war es, dass sich die Inbetriebnahme des Vorzeigeprojekts von Thyssen-Krupp und des brasilianischen Partnerunternehmens Vale – vor der Privatisierung bekannt als Vale do Rio Doce – wegen zahlloser Mängel immer weiter verzögerte. Die Kosten stiegen von ursprünglich knapp zwei Milliarden Euro auf mehr als das Dreifache. Als das Werk dann 2010 mit zweijähriger Verspätung den ersten Hochofen anwarf, sollen bei Ekkehard Schulz, damals bereits langjähriger Vorstandsvorsitzender von Thyssen-Krupp, Tränen der Erleichterung geflossen sein, wie er der Zeit verriet. Magarete dagegen begannen nach zwei Tagen die Augen zu jucken. »Manchmal konnte ich gar nicht richtig sehen«, sagt sie. Die Symptome häuften sich. »Auch meine Familie und viele Nachbarn begannen, über Atemprobleme und Hautausschlag zu klagen.« Die Anwohnerinnen und Anwohner protestierten, die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen Umweltverschmutzung auf und TK-CSA wurde eine dauerhafte Betriebserlaubnis verweigert. Nur Dank eines bilateralen Vertrags mit der bundesstaatlichen Umweltbehörde kann die Hütte nun bis 2014 überhaupt produzieren. Grund genug für Thyssen-Krupp, das einstige Prestigeobjekt endlich abzustoßen – denn TK-CSA ist für den deutschen Stahlkocher ein Milliardengrab. In den kommenden Wochen soll es gemeinsam mit einem Werk im US-amerikanischen Alabama verkauft werden, um mittelfristig wieder schwarze Zahlen zu schreiben.
Doch der Verkauf gestaltet sich schwieriger als erwartet, die Höchstgebote für beide Anlagen liegen mit knapp drei Milliarden Euro bisher weit unter der Hälfte der in Brasilien eingefahrenen Verluste. Das Pannenwerk hat nie eine Kapazität von mehr als 80 Prozent erreicht, die Produktion ist trotz niedrigerer Lohnkosten teurer als in Deutschland. Und jeder Silberregen ist zudem ein Indiz dafür, dass die Produktionskette wieder einmal ins Stocken geraten ist. Denn immer wenn sich flüssiges Eisen nicht weiterverarbeiten lässt, muss es in Notgruben unter freiem Himmel geschüttet werden, wo es mit der feuchten Meeresluft reagiert. Dass es überhaupt ein Interesse am Kauf an dieser riskanten Dreckschleuder gibt, erklärt Kato damit, dass »so relativ günstig die bereits investierten privaten und öffentlichen Mittel übernommen werden können. Wenn dann noch der Weltmarkt mitspielt und die maximale Produktivität erreicht wird, wäre die Hütte wieder rentabel.« Hinzu komme, dass für den exportierten Stahl, der als unverarbeiteter Rohstoff gilt, dank eines Gesetzes von 1996 kaum Steuern gezahlt werden müssten.

Nicht alle Anleger und Anlegerinnen im Stahlsektor scheinen von solchen Prognosen überzeugt zu sein. Als das brasilianische Unternehmen Companhia Siderúrgica Nacional (CSN) im März ein Kaufangebot machte, brach sein Börsenkurs noch am gleichen Tag um fast sechs Prozent ein. Die realen Reparaturkosten in Santa Cruz sind eben nur schwer kalkulierbar. Zudem müsste sich CSN für die Übernahme ohnehin Geld bei der Nationalen Entwicklungsbank (BNDES) leihen. Doch dort gibt es derzeit keine Mehrheit für einen solchen Kredit. »TK-CSA hatte im Rahmen des Programms für beschleunigte Entwicklung (Pac) und von der BNDES bereits viel Geld bekommen. Für den brasilianischen Staat waren diese Investitionen ein Verlustgeschäft von bis zu zwei Milliarden Euro«, schätzt Kato. Mit eingerechnet sind dabei die noch nicht beglichenen Geldstrafen für die Verstöße gegen Umweltrichtlinien.
Das volle Ausmaß der Kontamination sei bisher jedoch noch gar nicht abzuschätzen, sagt Magarete. » Die Bestände von Vögeln, Kaimanen, Wasserschweinen und Löwenäffchen, der Tiere, die hier gelebt haben, sind stark zurückgegangen. Einige suchen inzwischen Schutz in unseren Siedlungen. Auch die Fischbestände sind geschrumpft«, so die Anwohnerin. Seit dem Bau des Tiefseehafens und der ständigen Präsenz von Frachtern klagen auch die 8 000 Fischer und Fischerinnen der Bucht Sepetiba über Einbußen und haben Schadensersatzforderungen gestellt. Neben diesen laufenden Prozessen stehen auch Anschuldigungen der Vereinigung der Kleinfischer (Fapesca) aus dem Jahr 2008 im Raum. Sie werfen TK-CSA vor, Milizen beschäftigt zu haben. In diesem Zeitraum wurden in der Bucht mehrere Unfälle mit tödlichem Ausgang registriert. Die Menschenrechtskommission des Bundesstaats Rio de Janeiro und Pacs sehen ebenso bedeutende Indizien für eine Zusammenarbeit des Unternehmens mit paramilitärischen Gruppen.
Mit dem beabsichtigten Verkauf versuche Thyssen-Krupp, Strafprozessen zu entgehen, glauben die Geschädigten. Allein für die von der Staatsanwaltschaft untersuchten Umweltschäden drohen neben finanziellen Entschädigungen in Höhe von Hunderten Millionen Euro auch langjährige Haftstrafen für die Verantwortlichen von Thyssen-Krupp. »Der Verkauf wird keines der Probleme hier lösen und die neuen Eigentümer des Werks werden jegliche Verantwortung von sich weisen«, meint Kato. In Santa Cruz sei der Verkauf des Werks dagegen kaum ein Thema, sagt Magarete. »Es wird noch nicht einmal über das Für und Wider des Stahlwerks gestritten. Denn selbst die wenigen von hier, die einen der 1 800 Jobs bei TK-CSA haben, schimpfen über die Zustände. Viele sind krank, doch auf das Geld will und kann trotzdem niemand verzichten«, meint sie resigniert. Sie träumt von echten Alternativen ohne Stahl und Silberregen: »Ein öffentliches Krankenhaus, ein meeresbiologisches Institut – irgendetwas ohne Industrie.«

Doch die Chancen für einen endgültigen Produktionsstopp stehen schlecht. Zu nah liegen die Kohle- und Eisenerzgruben des am Jointventure mit TK-CSA beteiligten Konzerns Vale. Zu groß ist dessen Einfluss in der brasilianischen Politik, zählt das Unternehmen doch zu den größten Einzelspendern in Wahlkampfzeiten. »Parteiblind, auf allen Ebenen aktiv und äußerst pragmatisch an der Durchsetzung der eigenen Interessen orientiert«, beschreibt Kato den Konzern. Auch wenn es derzeit auf Bundesebene an Fürsprechern der Stahlhütte mangelt, wird allgemein zumindest von einer Fortsetzung des ökologischen Desasters ausgegangen. Zwei Zahlungsfristen für Kreditraten der BNDES hat Thyssen-Krupp bereits versäumt. Die »Silberregen« der vergangenen Monate sind ein deutliches Zeichen dafür, dass die Umweltauflagen nicht erfüllt werden.
Warum wird in der Bucht Sepetiba dennoch weiterhin Stahl gekocht? »Weil Investitionen in Brasilien zum wichtigsten politischen Argument geworden sind«, sagt Kato und verweist auch auf personelle Kontinuitäten: »Die heutige Präsidentin Dilma Rousseff war bis 2010 verantwortlich für Pac, in dessen Rahmen ja auch das umstrittene Staudammprojekt Belo Monte vorangetrieben wird. Der Diskurs ist ein technischer. Soziale und ökologische Fragen sind peripher geworden und werden als Hindernisse betrachtet, die die Einhaltung von Zeitplänen gefährden.« Wird derartige Kritik außerhalb Brasiliens laut, gilt das als Eingriff in nationale Interessen. Als die Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) dem Land beispielsweise einen Baustopp in Belo Monte empfahl, zog die brasilianische Regierung 2012 ihren Vertreter aus der Menschenrechtskommission ab und strich ihre jährlichen Zahlungen an die OEA von gut 600 000 Euro.
Am Donnerstag vergangener Woche besuchten deutsche Bundestagsabgeordnte des Unterausschusses »Gesundheit in Entwicklungsländern« das Stahlwerk in Santa Cruz. Zum geplanten Treffen mit Anwohnerinnen und Anwohnern erschienen sie mit über anderthalb Stunden Verspätung. Deren Erfahrungsberichte seien zweifelhaft, erklärten die Abgeordneten der CDU/CSU, SPD und FDP schließlich den Anwesenden. Thyssen-Krupp habe die Umweltverträglichkeit der Produktionsstätte sehr überzeugend dargelegt. Einzig der Abgeordnete Uwe Kekeritz (Grüne) versprach, den Fall noch einmal genauer untersuchen zu wollen.
Die Stahlherstellung ist und bleibt ein schmutziges Geschäft. Vielleicht wird die Feinstaubbelastung in Santa Cruz künftig die erlaubten Höchstgrenzen der Weltgesundheitsorganisation, je nach Windlage, nicht mehr um das Vierfache übersteigen. Doch an etwas »Ökodumping« dürften auch die künftigen Investoren interessiert sein. Derzeit hat ein Konsortium der Unternehmen Technit und Usiminas, in denen brasilianisches, argentinisches und italienisches Kapital angelegt ist, die besten Aussichten, den Zuschlag zu erhalten. Dass sich dann grundlegend etwas ändert, darf bezweifelt werden. 2011 wurde Usiminas von der Staatsanwaltschaft in Rio de Janeiro angezeigt, ein Sachverständigengutachten gefälscht zu haben. Auftraggeber des Gutachtens war TK-CSA, geliefert wurde ein äußerst fragwürdiger Wetterbericht: Silberregen gebe es nach der damaligen Einschätzung von Usiminas in der Bucht Sepetiba schon längst nicht mehr.