Die Biennale in Bosnien-Herzegowina

Als die Kuh in den Graben fiel

Der Besuch der Biennale in Bosnien-Herzegowina gleicht einer Zeitreise. Sie führt über Sarajevo in einen riesigen Atombunker in den Bergen, der als Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst dient.

Mit ernster Miene führt uns der Direktor des Olympischen Museums in Sarajevo, Edin Numankadić, zu einem Videorecorder und spielt uns einen Film vor. Wir sollen ihn anschauen, erst danach ist er zu einem Gespräch mit uns bereit. Wir sind reichlich verwirrt. Numankadić gilt als einer der bekanntesten Künstler Bosnien-Herzegowinas, wir hatten uns das Museum, dessen Direktor er ist, moderner vorgestellt. In der sogenannten Erinnerungshalle befindet sich eine Sammlung bosnischer Kunst, die wie ein chaotisches Sammelsurium wirkt. Zeichnungen mit Motiven der Olympischen Spiele von 1984 hängen neben abstrakter Malerei, dazwischen stehen klassische Skulpturen. Zehn Minuten später wissen wir Bescheid. Das Video zeigt eine Stadt, die bereits vor dem Zusammenbruch des Ostblocks internationale Bedeutung hatte. Andy Warhol gestaltete das Plakat für die Winter-Olympiade 1984. Wir erinnern uns dunkel an die Übertragung von Skispringwettbewerben im deutschen Fernsehen. Auch an Gold für Katarina Witt. Und an ein einzigartiges Eiskunstlaufpaar, das zu Maurice Ravels »Bolero« seine Kür lief. Ich muss die Namen googlen: Jayne Torvill und Christopher Dean aus Großbritannien. Längst vergessen. Für uns war es Wintersport gewesen, für das damalige Jugoslawien bedeutete es internationale Anerkennung.
Dabei war Sarajevo nur zweite Wahl gewesen. Viele Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees hatten das japanische Sapporo favorisiert. Für Sarajevo war der Entscheid ein Aufbruch in eine neue Zeit. Bei den Winterspielen von Sarajevo waren Männer und Frauen erstmals gemeinsam im olympischen Dorf untergebracht. Die DDR druckte ein Jahr vor den Spielen eine Sonderbriefmarke mit einem Bild des Olympiastadions in Sarajevo. »Es war kein Zufall, dass die erste serbische Bombe auf das Olympiazentrum fiel«, erzählt uns Edin Numankadić, nachdem wir die Bilder von der Zerstörung und dem Wiederaufbau der Stadt gesehen haben. »Als die Kuppel des Museums brannte, bin ich durch den Bombenhagel durch die halbe Stadt gerannt, um die Kunstsammlung zu retten, die wir damals besaßen«, berichtet er. Es war zu spät, kein einziges Exponat überstand den Krieg. Nach diesem Exkurs in die Geschichte schauen wir die Sammlung in der Erinnerungshalle mit anderen Augen an. Es sind vor allem Spenden von zeitgenössischen Künstlern und ihren Nachfahren.
Numankadić schickt uns als nächstes zum Ars Aevi. Schon der Weg vom Olympischen Museum dorthin lohnt sich. Das ehemalige olympische Dorf dient heute als Studentenwohnheim. Viele Gebäude weisen noch Einschusslöcher auf. Der große Park, der früher als Junkie-Treffpunkt galt, wurde unlängst »Recep-Tayyip-Erdoğan-Park« getauft, weil der türkische Staat so viel Gutes für die Region bewirke. Neben Schulen und Universitäten des Islamisten Fethullah Gülen hat die Türkei auch den Wiederaufbau der berühmten osmanischen Brücke von Mostar mitfinanziert. Außerdem unterstützt sie die diesjährige Kunst-Biennale. Das Ars Aevi liegt in einem großen Kultur- und Sport-Komplex. Ein architektonisches Monstrum aus Titos Zeiten. Der bosnische Architekt Amir Vuk hat eine Holzbox konstruiert, die als Ausstellungraum dient, bis das neue Museum des Stararchitekten Renzo Piano fertiggestellt ist. Eindrucksvolle Installationen warten im Inneren: An einem Balken baumelt ein von Juan Muñoz gestifteter Erhängter neben einer baukranähnlichen Skulptur von Tony Cragg. Joseph Kosuth hat eine Schiefertafel mit allen bedeutenden Okkupationsdaten der Geschichte Sarajevos zur Verfügung gestellt. Eine italienische Sammlerin schenkte eine Olivenöl-Installation von Joseph Beuys. Das Ars Aevi, der Name ist ein Anagramm von Sarajevo und bedeutet »Kunstepoche«, ist ein einzigartiges Projekt. Es entstand aus der Zusammenarbeit internationaler Künstler und Kuratoren, die in Sarajevo einen Treffpunkt östlicher und westlicher Kulturen sehen. Die Idee entstand bereits 1992, als Enver Hadžiomerspahić ein Zentrum für zeitgenössische Kunst in Sarajevo errichtete und mit Künstlern wie Edin Numankadić in der Zeit der Belagerung Kunstaktionen durchführte. Ausgebombte Galerien dienten als Austellungsorte, nicht selten bezahlten Besucher ihr Kunstinteresse mit dem Leben. »Wir lachten, wenn neben uns Granaten einschlugen«, sagt Amila Ramović, Geschäftsführerin des Ars Aevi.
Zu Kriegszeiten war die 1977 in Sarajevo geborene Musikwissenschaftlerin noch ein Kind. Sie setzt sich dafür ein, dass die Stadt, als letzter großer Kriegsschauplatz Europas, zu einem bedeutenden Ort für zeitgenössische Kunst wird. Amila Ramović liebt die Arbeiten von Nebojša Šeric Shoba, einem 1968 in Sarajevo geborenen Künstler, der mit Anfang 20 an der Front kämpfen musste. Eine Fotoarbeit des mittlerweile in New York lebenden Künstlers trägt den Titel »Sarajevo–Monte-Carlo«. Sie zeigt den Künstler in Monte Carlo in James-Dean-Pose vor einem Küstenpanorama und als Soldat im Schützengraben in Sarajewo. Die Gegenüberstellung der Bilder lässt Melancholie aufkommen. Welcher junge Bosnier hatte sich das Soldatendasein schon ausgesucht? »Shoba kämpfte in den Bergen im Osten, direkt an der Front zu den Serben«, erzählt Amila Ramović. »Viele aus der Generation der damals 20jährigen starben dort«. Dann erzählt sie eine Anekdote aus Kriegszeiten. Shoba kam demnach einmal mit einem Sandwich in die Schule, das mit Brot belegt war. Er sagte, alle kämen immer mit Käse- oder Thunfischbroten, aber niemand habe eine Brot, das mit Brot belegt sei. Wir schauen etwas verdutzt, während Amila Ramović sich ausschüttet vor Lachen. Auffällig ist die Abneigung gegen jedes Pathos in Sarajevo. Eine surreale Art von Humor prägt die Stadt im Drina-Gebirge. Anschließend machen wir uns auf den Weg zu einem Friedhof mit vielen Kriegstoten. Diejenigen, die hier liegen, waren entweder alt oder sehr jung, als sie sterben mussten. Eine Strategie der serbischen »Säuberungen«. Wer diejenigen, die sich zur Wehr setzen, nicht besiegen kann, mordet die Alten und die Nachkommenden.
Es folgt die Fahrt zum Höhepunkt der Reise: Titos Bunker, der zum Ausstellungsort umgewidmet wurde. Wie mag er aussehen? Wir fahren eineinhalb Stunden durch eine liebliche Landschaft mit leerstehenden zerstörten Gehöften. Hier haben sich Nachbarn gegenseitig massakriert, hier wurde vergewaltigt und all das, was Menschen lieb ist, zerstört. Ich frage den Busfahrer mit der Rennfahrersonnenbrille, was hier passiert ist, und er antwortet mir: »Das willst du nicht wissen.« Die Bosnier erwarten, dass der Besucher sich vorbereitet. Dies ist nicht nur eine Kunstausstellung, sondern eine Zeitreise. Wer nicht weiß, worauf er sich einlässt, sieht nichts. Der Bunker ist perfekt getarnt. Eine Fassade mit weißen Kacheln. Sie dient als Tarnung für ein Monument aus den Tagen des Kalten Krieges. Hinter der Eingangstür liegt ein langer, dunkler Tunnel. Er führt in einen Atombunker, der zwischen 1953 und 1979 in den Bergen von Bosnien-Herzegowina gebaut wurde. 6 500 Quadratmeter Hohlraum schlugen Arbeiter heimlich in die Felsen bei Konjic, einer Kleinstadt 45 Kilometer westlich von Sarajevo. Der Bunker sollte Präsident Josip Broz Tito und den Generalstab im Falle eines Atomkrieges schützen. Er wurde freilich nie genutzt. Die teure, nutzlose Ruine wollten die Bosnier nach der Unabhängigkeit nicht einfach verkommen lassen. Edin Numankadić entwickelte mit Freunden die Idee, den Bunker als Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst zu nutzen. Eine große kuratorische Herausforderung, denn das Gebäude ist bereits eine monströse Skulptur. Veraltete Kommunikationstechnik, riesige Generatoren, Ventilatoren und andere Gerätschaften wirken wie imposante Installationen in den labyrinthischen Gängen und Räumen. Die Kunst muss mit der Umgebung korrespondieren: Milija Pavićević aus Montenegro präsentiert in einem schlauchförmigen, dunkelrot gestrichenen Raum eine illuminierte Skulptur auf einem Sockel. Von weitem wirkt das Objekt imposant und sakral. Es hat eine ovale Form und schimmert golden. Aus der Nähe betrachtet, entpuppt es sich als Bettpfanne, wie sie in Krankenhäusern und Pflegeheimen für bettlägerige Patienten benutzt wird. Eine feinsinnige Arbeit in einem vom Krieg gezeichneten Land, das viele Invaliden hat. Edin Numankadić hat Boxen gebaut, die wie bunte Laptops aussehen. Sie wurden mit Gegenständen bestückt, die für den Künstler während des Bosnien-Krieges wichtig waren: bunte Ölkreide, die Glasmurmeln seiner Tochter, eine Märchenbuchillustration. Der irakische Künstler Adel Abidin präsentiert einen Animationsfilm. Es geht um eine Brücke, die während der ersten Golfkrise in Bagdad zerstört wurde. Am Ufer steht eine Kuh, die nicht mehr auf die andere Seite zu ihrer Herde gelangen kann. Sie verendet im Graben, nachdem sie versucht hat, auf die andere Seite zu springen. Im Hintergrund brüllen die Kühe. Eine Szene wie aus einem Hollywood- Film, aber ohne rührselige Musik. Dieser komisch-existentielle Kitsch ist der passende Kommentar eines Künstlers aus dem Nahen Osten zur westlichen Kunstszene.
Eine Video- und Fotodokumentation zeigt, wie der türkische Künstler Hüseyin Alptekin einen albanischen Bunker bis vor das Museum Fridericianum in Kassel transportiert. Das Kunstkollektiv Laibach projiziert das Foto eines Mokkatässchens mit Hakenkreuz. Hübsch ist eine Aufnahme, die das spießige Interieur des Bunkers zeigt. Ein Porträt Erich Honeckers hängt an der Wand. Die zweite »Untergrund-Biennale« Sarajevo führt an versunkene Orte und lässt Künstler zu Wort kommen, für die die Geschichte noch längst nicht erledigt ist.