Ein warziger Speedfreak

Berlin Beatet Bestes. Folge 192. Half Girl/Luise Pop Split EP (2013).

Letztens ruft mich eine Freundin an: »Hallo Andi, ich brauche deine Hilfe. Deine graphische Hilfe!« Und dann öffne ich ein paar Tage später die Tür und da steht tatsächlich Lemmy vor mir und stiefelt in meine Wohnung. Er ist es eindeutig, Lemmy von Motörhead, erkennbar an den langen schwarzen Haaren, dem fetten unter der Nase zusammengeführten Backenbart und den engen schwarzen Klamotten. Aber er ist noch ganz jung, ihm fehlen noch die Tätowierungen. Hier soll ich ins Spiel kommen. Nach beendeter Bildsuche im Internet zücke ich den Edding und male dem jungen Mann die zwei bekanntesten Lemmy-Tattoos auf die Unterarme. Auf den linken »Ace of Spades« (statt der Zusätzen »Born to lose« und »Live to win«, entscheiden wir uns allerdings kurzerhand für »Half Girl« und »Live to win«) und auf den rechten Unterarm ein großes »Indianersymbol« mit Adler, Federn und gekreuzten Pfeilen. Als die Edding-Tattoos fertig sind, ist Lemmy noch echter. Die Freundin scheint ihren frisch tätowierten Freund nun gleich noch attraktiver zu finden als zuvor schon. Dieser junge, knackige Lemmy sieht aber auch sowas von scharf aus! Es fehlen ihm allerdings noch einige Accessoires. Lemmy hat ja unheimlich viele davon: Cowboyhut, Cowboystiefel, Ringe, Kette, eisernes Kreuz, Jeansweste, Patronengurt und natürlich: die Warzen.
Letztens lief auf Arte die eine Dokumentation, die Lemmy auch in seinem kleinen Appartement in Los Angeles zeigt. Bei Lemmy zu Hause sieht es aus wie bei einem Fan von Lemmy. Devotionalien, wohin das Auge blickt. Alle möglichen Rocker bescheinigen ihm in dem Film, wie unbeirrbar er seinen Weg gegangen ist. Vor allem die gleichaltrigen Weggefährten machen den Unterschied zwischen Lemmy und ihnen deutlich. Sie sehen aus, wie normale Mitsechziger nun mal aussehen – ohne Accessoires. Genau so wie Henry Rollins dient Lemmy ja im Allgemeinen Männern als Vorbild. Bei Rollins ist es die Mischung aus Intellektualität und Muskeln und bei Lemmy ist es die Geradlinigkeit und der Mut zur Hässlichkeit. Während sich Männer von Lemmys Hässlichkeit auch gern zur Nachahmung inspirieren lassen, scheint Frauen eher der Gegensatz zu interessieren: die Schöne und das Biest. Oder besser: das domestizierte Biest. Die Berliner Band Half Girl hat über dieses Spannungsverhältnis ein Lied geschrieben: »Lemmy, I’m a Feminist«. Es ist eine rockende Liebeserklärung an Lemmy, die aber auch sagt: »Du bist super, aber bilde dir bei mir keine Schwachheiten ein, Alter!« Das Video zu »Lemmy, I’m a Feminist«, in dem der junge Lemmy mit den aufgemalten Tattoos auftaucht, drehte übrigens Splatter-Filmer Jörg Buttgereit.
Half Girl und Luise Pop liefern auf ihrer Split-EP vier schöne poppige Punksongs ab. Oder punkige Popsongs. Songs jedenfalls mit genug Schmutz unter den Fingernägeln, um sie interessant zu halten. Am 19. Mai stellen die Bands ihre Platte im Berliner »Südblock« am Kottbusser Tor vor.