Die »Stalingrad-Protokolle«

Sprich, Soldat, sprich

70 Jahre nach der kriegsentscheidenden Schlacht erscheinen die verschollen geglaubten »Stalingrad-Protokolle«. Sie geben Aufschluss über das Selbstverständnis und die Motivation der Rotarmisten und ihre Wahrnehmung der deutschen Gegner.

Abhandlungen über die Schlacht von Stalingrad gibt es viele, allerdings handelt es sich fast ausnahmslos um Darstellungen aus deutscher Sicht. Der Mythos vom deutschen Opfergang wurde auch nach 1945 tradiert. Das Interesse gilt stets dem leidenden, aber heldenhaft kämpfenden deutschen Landser. Ganz ähnlich wird die Schlacht auch im westlichen Ausland dargestellt. Die Knoppsche Trilogie – »Der Angriff«, »Der Kessel« und »Der Untergang« – ist paradigmatisch für die Darstellung der Schlacht, die die entscheidende Wendung im Zweiten Weltkrieg bedeutete. Die Geschichte der Schlacht setzt zumeist erst mit dem 19. November 1942 ein, dem Beginn der Einkesselung der 6. Armee, und zeigt die Aggressoren in der Verteidigerpositon. Der deutsche Angriff auf Stalingrad und die Schneise der Vernichtung, die die 6. Armee auf ihrem Weg nach Stalingrad schlug, werden dabei ignoriert. Vielmehr werden die 190 000 deutschen Toten der Schlacht und das Schicksal der rund 90 000 gefangen genommenen Wehrmachtssoldaten thematisiert. Dieser Darstellung widerspricht der in den USA lehrende Historiker Jochen Hellbeck in seinem Buch »Die Stalingrad-Protokolle« auf der Grundlage historischer Dokumente, die eine gänzlich andere Perspektive auf die Schlacht eröffnen: Hier wird das kriegsentscheidende Ereignis aus sowjetischer Sicht erzählt.
Wie schon viele andere Dokumente, die in den vergangenen Jahren in russischen Archiven aufgetaucht sind, galten auch die sogenanten Stalingrad-Protokolle lange Zeit als verschollen und gerieten in Vergessenheit. In jüngster Zeit haben etwa die Abhörprotokolle deutscher Soldaten die Forschung weiter vorangebracht.
Eine sowjetische Historikerkommission hatte im Laufe des Jahres 1942 während der Schlacht und kurz danach damit begonnen, Offiziere, Soldaten, Helfer der Roten Armee und Bewohner der Stadt über ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu befragen. Eigens dafür mitangereiste Stenographinnen protokollierten die Aussagen der an der Schlacht Beteiligten und hielten sie für die Nachwelt fest. Bis zum Ende der Kämpfe wurde umfangreiches Interviewmaterial gesammelt. Erhalten sind davon 215 Zeitzeugenberichte, von denen Hellbeck eine Auswahl vorstellt.
Befragungen der Bevölkerung wurden seit dem russischen Bürgerkrieg regelmäßig durchgeführt. Bereits 1920 hatte die Kommunistische Partei eine historische Kommission gegründet, die durch umfangreiche Zeitzeugenbefragung die Erinnerung an die Revolution wachhalten sollte. Schriftsteller wie Maxim Gorki beteiligten sich an dem Projekt. Gemäß der sozialistischen Idee wurden auch viele Industriearbeiter interviewt. Der Historiker Isaak Minz, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, forderte kurz nach dem Einmarsch der faschistischen deutschen Truppen ein ebensolches Projekt im Hinblick auf den Krieg gegen Deutschland. Er hoffte, dass man kraft der authentischen Aussagen sowjetischer Soldaten über die Verbrechen der Deutschen die Kampfbereitschaft der Soldaten und die Wehrbereitschaft der Bevölkerung erhöhen würde. Ebenso sollten Berichte über sowjetische Heldentaten als Ansporn dienen. Das Projekt wurde zu einem Zeitpunkt bewilligt, als der deutsche Vormarsch 1941 vor Moskau ins Stocken geraten war. Jetzt zeigte sich Stalin aufgeschlossen gegenüber dem Vorhaben; Minz konnte 40 Mitarbeiter engagieren, die sich sofort an die Befragung der sowjetische Truppen machten. Minz forderte, vorrangig als Helden geltende Soldaten zu interviewen, ließ aber auch kritische Aussagen zu. Sein Motto: »Schwierigkeiten und Mängel nicht vertuschen. Die Wirklichkeit nicht schönfärben. (…) In allen Darstellungen die historische Wahrheitstreue streng einhalten. Durch Kreuzverhöre der Leute und Dokumente alle Ereignisse, Daten, Namen und Fakten genau prüfen.«
Die Dokumente aus Stalingrad sind nie an die sowjetische Öffentlichkeit gelangt. Sie passten nach dem Sieg über Deutschland nicht mehr in das politisch gewollte Bild des »Großen Vaterländischen Krieges«. Zwar spiegelt sich in vielen Zeugnissen der Hass auf die faschistischen Aggressoren wider, gleichzeitig werden aber auch viele unliebsame Themen angesprochen. Zudem war in der sowjetischen Geschichtsschreibung nach 1945 kein Platz für die vielen Helden, die den Sieg erkämpft hatten, den Stalin am Ende für sich allein verbuchen wollte. Einfache Soldaten und Offiziere passten nicht mehr ins Bild. Nach dem Krieg gehörte Minz zu den Opfern des spätstalinistischen Antisemitismus in der Sowjetunion; er verlor seine Professur und wurde erst nach Stalins Tod rehabilitiert.
Die von Jochen Hellbeck in Zusammenarbeit mit Historikern der Russischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichten Protokolle räumen mit dem verbreiteten Vorurteil auf, dass die sowjetischen Verbände nur durch Repressionen zum Kampf gegen Deutschland gezwungen werden konnten. Immer wieder wurde in der westlichen Forschung behauptet, die Truppen der Roten Armee seien nur aufgrund von Massen­erschießungen zurückweichender Soldaten und verantwortlicher Einheitenführer kampfbereit gewesen. Stalins berühmter Befehl Nummer 227 vom 28. Juli 1942 mit der Parole »Keinen Schritt zurück« wurde als Beleg angeführt. Die Dokumente aus Stalingrad ergeben ein anderes Bild. Sie zeigen, dass es ein großes Interesse daran gab, die faschistischen Truppen zu besiegen. Und auch die Kommunistische Partei war motiviert und führte systematisch Schulungen durch. Viele Soldaten stellten während des Krieges Aufnahmeanträge in die Partei. Es gelang zumindest partiell, den faschistischen Aggressor als Klassenfeind darzustellen. Sozialistische Ideale waren ebenfalls ein wichtiges Motiv. Allerdings war der Stalin-Kult auch in den Einheiten der Roten Armee allgegenwärtig. Die Frage, welche Vorstellung des Kommunismus in den Einheiten der Roten Armee vorherrschte, können auch die Zeugnisse aus Stalingrad nicht beantworten. Auch in den ausgewählten Dokumenten finden sich viele Aussagen von Parteifunktionären, die dem Stalin-Kult anhingen. »Wir spürten die ganze Zeit die Fürsorge und die Weisheit des Genossen Stalin«, erklärt beispielsweise Hauptmann Nikolai Axjonow. Andererseits gibt es auch viele Beispiele deutlicher Kritik, die sich zumeist gegen die Kriegsführung und nicht generell gegen den Staat wendete.
Erschreckend sind die Berichte über die Zerstörungswut der deutschen Angreifer. Die Küchenarbeiterin Agrafena Posdnjakowa, die als Zivilistin während der Kämpfe in Stalingrad ausharren musste und ihren Mann und zwei ihrer Kinder verlor, erzählt: »Wir wurden sehr schlimm behandelt, geschlagen, es wurde auf uns geschossen.« Rücksichtslos wurde sie im Winter von den deutschen Angreifern samt den Kindern aus ihrer Behausung auf die Straße gesetzt. Alle Berichte zeugen von einem Vorgehen, das, wie der Befehl Hitlers lautete, in Stalingrad keinen Stein auf dem anderen lassen würde. Der Vernichtungswille der Deutschen motivierte die Soldaten der Roten Armee wohl weit stärker dazu, ihr Land zu verteidigen, als die Schulungsarbeit der Kommunistischen Partei. Umso erstaunlicher ist, dass viele Rotarmisten dennoch anerkennend von der deutschen Disziplin sprechen. Wahrscheinlich war ihnen das ganze Ausmaß des deutschen Vernichtungskrieges nicht bekannt.
Der Verlag S. Fischer bewirbt das Buch mit dem Hinweis, dass es die Sicht auf die Schlacht vollständig erneuere. Diesem Anspruch wird das Buch nicht gerecht. Zum Schlachtverlauf selbst bringt es wenig Neuigkeiten. Die hohen Verlustzahlen der Roten Armee sind schon seit Längerem bekannt. Das Buch kann jedoch der auf Deutschland zentrierten Deutung der Schlacht etwas entgegensetzen. Die Soldaten der Roten Armee, die oft – der rassistischen NS-Doktrin folgend – als roh und ungestüm beschrieben werden, bekommen durch die Zeitzeugenberichte Individualität. Hellbecks Verdienst ist es, dass er die Dokumente nicht in einen »Systemvergleich« drängt – nach dem Motto: Diktatur gegen Diktatur –, sondern sie für sich sprechen lässt und, wo nötig, historisch unaufgeregt einordnet.

Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle.
S. Fischer, Frankfurt/Main. 2012, 608 Seiten, 26 Euro