Die Engel von Paul Klee in der Hamburger Kunsthalle

Die Ohnmacht der Engel

Große Köpfe, kleine Flügel: Paul Klees Engel in der Hamburger Kunsthalle.

Engel gehören ins Nebelreich der monotheistischen Religionen. Sie werden als Diener Gottes vorgestellt, sind dem Wortsinn nach – griechisch »angeloi« – die göttlichen Boten. Obwohl Abgesandte, halten sich Engel dennoch meistens in der Nähe ihres Gottes auf; freilich ihm untergeordnet, gelten sie bisweilen trotzdem als höchste Stufe der Schöpfung in personaler Gestalt. Ältere Vorstellungen von Dämonen und Elementargeistern werden im späteren Judentum zu Engeln, beziehungsweise genauer zu Erzengeln umgedeutet (Michael, Gabriel, Raphael, Uriel etc.; in der Engelhierarchie stehen sie ganz oben).
Bei Moses sind die Engel noch flügellos und ohnehin Traumwesen; sie benutzen die Leiter: »Jaakob … träumte: Da, eine Leiter gestellt auf die Erde, ihr Haupt an den Himmel rührend, und da, Boten Gottes steigen auf, schreiten nieder an ihr.« (Übersetzung Martin Buber) Erst im 1. Buch der Chronik im Alten Testament lässt ein »zwischen Erde und Himmel stehender« Bote vermuten, dass Engel fliegen können, also Flügel haben. Solche beflügelten Boten sind der griechischen Mythologie entnommen; auch Götterbote Hermes hat – kleine – Flügel.
Das Christentum verstärkt den Engelglauben (auch der Islam übernimmt die Engel aus dem Judentum). »Zwei Männer in leuchtenden Gewändern« sagen zu den Frauen im leeren Grab Jesus Christus: »Was sucht ihr den Lebenden unter den Toten?« Engel gehören in der heute bekannten Gestalt als beflügelte Schutzwesen zur Symbolsprache der Kirche, finden sich zahlreich als beliebtes Motiv in der christlichen Kunst, gehören insbesondere zur mittelalterlichen Ikonographie. So wird Jesus auf seiner Himmelfahrt von – zumeist vier – Engeln begleitet oder sogar getragen.
Vor allem die Romantik wiederholt die christliche Symbolik des Mittelalters: Gerade inmitten fortschreitender Säkularisierung haben etwa die Brüder Grimm auf dem Titelblatt des ersten Bands ihres »Deutschen Wörterbuchs« einen Engel platziert; ein Schild hält er, auf dem der erste Satz des Johannes-Evangeliums geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort.«
Die Religionen sind ein, nach Marx, »verkehrtes Weltbewusstsein«, das aufzuheben ist: Die »Kritik des Himmels« ist in eine »Kritik der Erde« zu verwandeln; Nietzsche hat, noch ganz im Jenseits verfangen, dessen letzte Wahrheit ausgesprochen: Gott ist tot – er ist gestorben, womöglich haben die Menschen ihn umgebracht. Fortan galt es die, noch einmal Marx, »Wahrheit des Diesseits zu etablieren«. Marx bestimmt das als »Aufgabe der Geschichte«. Sie wurde von den historischen Tatsachen überholt: Schon im 19. Jahrhundert wendet sich der Fortschritt in Regression, im 20. Jahrhundert kulminiert das bürgerliche Zeitalter im Weltkrieg. Die Möglichkeit der totalen Zerstörung wird zur Wirklichkeit systematischer Vernichtung. »Das es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe«, notierte Walter Benjamin im Schatten des drohenden faschistischen Terrors für sein »Passagen«-Projekt.
Gibt es in dieser Katastrophe noch Engel? Hat in dieser Welt, die kein schützendes Jenseits mehr kennt und deren Diesseits für Millionen ein Jammertal des nackten Todes ist, überhaupt die Vorstellung von höheren Wesen Platz, die einmal als Lichtgestalten (womöglich gute) Nachrichten überbrachten und so auf wundersame, unerklärliche Weise den Menschen helfen?
Paul Klee hat den Engeln in seinen Bildern einen Ort gegeben: Rund 80 Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen und Gemälde mit Engelsdarstellungen gehören zu seinem Werk, die meisten Bilder aus den letzten Lebensjahren des 1940 gestorbenen Künstlers. Zu sehen ist die Sammlung jetzt, nach den Ausstellungen im Zentrum Paul Klee in Bern und im Museum Folkwang in Essen, im Hubertus-Wald-Forum der Hamburger Kunsthalle.
Paul Klee wird 1879 in der Schweiz geboren. Auf der zweiten Ausstellung der Künstlergruppe »Der Blaue Reiter« präsentiert Klee einige graphische Arbeiten; 1914 entstehen während und nach einer Studienreise nach Tunesien erste Gemälde, die Klee später als einen der bedeutendsten Künstler der klassischen Moderne bekannt machen: mosaikartig angeordnete Farbflächen, mal intensiv, mal expressiv, dann wieder sublim; Landschaften, Stadtansichten, phantastische Muster. Zudem verfasst Klee auch einige ästhetisch-theoretische Texte.
Sie erscheinen in den zwanziger Jahren zumeist als Bauhaus-Publikationen, so zum Beispiel sein »Pädagogisches Skizzenbuch«. Klee lehrt seit 1920 am Staatlichen Bauhaus in Weimar als Werkstattmeister für Buchbinderei, übernimmt später andere Werkstätten; unter der Leitung László Moholy-Nagys wird ab 1923 Klees »Formlehre« fester Bestandteil der Grundlagenausbildung am Bauhaus. Nach dem – politisch erzwungenen – Umzug des Bauhauses nach Dessau konzentriert sich Klee weiter auf die Form- und Farbenlehre: Im Mittelpunkt stehen Erkenntnisse über den Zusammenhang von Linien, Formen, Flächen und Farben im Bildraum.
Und dann gibt es noch die Engel, mit denen sich Klee seit den späten zehner Jahren künstlerisch auseinandersetzt: »Angelus descendens« (herabsteigender Engel) heißt ein Bild von 1918.
Ein recht bunter Engel ist darauf zu sehen. Er trägt einen Rock aus roten Rüschen, zudem ein weißes, fast transparent anmutendes Hemd. Es ist kein gefallener Engel, aber doch ein fallender: Ruhig gleitet er hinab, hat die Flügel wie einen Fallschirm ausgebreitet, um sich sicher zum Boden zu manövrieren. Ein kleiner violetter Vogel fliegt über seinem Kopf, nach oben. Vielleicht gibt er dem Engel auch etwas Halt in der Luft. Grüne Himmelskörper umgeben ihn: ein Halbmond, die Sonne und zwei Davidsterne. Den Blick auf die unter ihm liegenden Bäume und Häuser gerichtet, versucht er sicheren Boden unter seine Füße zu bekommen.
Der »Angelus descendens« lässt sich als anderer Engel der Geschichte interpretieren, ähnlich wie Klees »Angelus Novus« von 1920, das Walter Benjamin 1921 kaufte und das später Georges Bataille versteckte, bevor Gershom Scholem es bekam. Seit 1989 hängt es im Israel-Museum in Jerusalem; in der Hamburger Ausstellung wird lediglich eine Kopie gezeigt.
Die Engel sind bei Klee zwar himmlische Wesen, verfügen aber nicht mehr über die ihnen einmal zugeschriebene himmlische Macht. Im Gegenteil: Gerade die göttlichen Kräfte sind es ja, die etwa den »Angelus Novus« am Verweilen hindern. Denn, so deutet Walter Benjamin in der neunten seiner »Thesen über den Begriff der Geschichte«, »ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann«. Interpretiert werden Benjamins Ausführungen zum »Angelus Novus« so, als wären wir in der historischen Position des Engels. Entscheidend ist aber, dass wir zur Geschichte nicht nur anders stehen, sondern durch diesen anderen Standpunkt auch einen anderen Begriff von Geschichte haben: »Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert«, heißt es bei Benjamin.
Das rückt vielleicht alle Engel von Klee in ein anderes Licht: Es sind verzweifelte Wesen, eigentlich Übermittler einer frohen Botschaft, auf die aber niemand so recht zu warten scheint. Engel sind höhere Wesen, die im Dreck des niederen Lebens, dass wir Erniedrigten ja selbst nur beobachten, jeden Glanz des transzendierend-utopisch Höheren verloren haben – und sich jetzt um geschichtliche Probleme kümmern, die uns Menschen kaum noch als Geschichte interessieren.
Jeder einzelne von Klees Engeln erscheint als naives Kinderbild; doch in der Vielzahl, wie sie in der Ausstellung versammelt sind, werden sie zu einer Heerschar des Schreckens. Nicht der Glaube ist das nötige Vermögen, um Engeln zu vertrauen, sondern Aufklärung. Die Welt, die sie bewohnen, ist von unheimlicher Aktualität: Sie stehen als Einzige inmitten der Katastrophe und wissen darum. Deshalb sind Klees Engel keine übermächtigen Wesen, sondern ohnmächtige Boten irdischer Belange; kurzum: vergessene Symbole des Rätsels und der Lösung der Geschichte gleichermaßen.

Paul Klee. Engel. Hubertus-Wald-Forum in der Hamburger Kunsthalle. Bis 7. Juli 2013. Der Katalog ist im Verlag Hatje Cantz erschienen.