Der internationale Adoptionsmarkt

Verlassene Eltern suchen Kind

Das Haager Übereinkommen zur internationalen Adoption sollte einheitliche Regeln schaffen und Kinderhandel einschränken. Doch auch 20 Jahre nach der Verabschiedung bestimmt der Konkurrenzkampf der Eltern den Adoptionsmarkt – und lässt wenig Platz für die Rechte der Kinder.

Ein großes rundes Blatt, das die Fluten des Rio Dulce hinabtreibt, und mitten auf diesem Blatt »ein kleines braunes Baby«. Eine weiße Frau, die den Abhang von ihrem Landsitz im guatemaltekischen Dschungel hinabstürmt, das Blatt an Land zieht und das Kind in ihre Arme schließt. Mit dieser Szene beginnt Catana Tully ihre Biographie »Split at the Root«, es ist das erste von vielen Märchen, die Tullys deutsche »Mutti« ihrer Adoptivtochter erzählt. Tullys Kindheit liegt in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und es ist unwahrscheinlich, dass Eltern die Adoptionsgeschichte ihres Kindes heute noch auf so abenteuerliche Weise zu erklären versuchen. Stattdessen gibt es zahlreiche pädagogische Kinderbücher, die »Paule ist ein Glücksgriff«, »Mit dir sind wir eine Familie« oder »Der Findefuchs« heißen. Manche sind betulich, manche modern und in »Das grüne Küken« kommt sogar ein alleinstehender Gänserich vor, der einen kleinen Drachen aufzieht. Sie werden nicht nur von adoptierten Kindern gerne gelesen. Jedes Kind beschäftigt die Frage, was passiert, wenn man »keine Eltern hat«, und jedes Kind ist erleichtert, wenn sich neue Eltern für das verlassene Fuchs-, Drachen- oder Menschenbaby finden.

Tatsächlich ist Adoption nicht nur die Geschichte vom elternlosen Kind, sondern oft auch die von kinderlosen Eltern. In Deutschland kommen nach Angaben des Statistischen Bundesamts auf ein zur Adoption vorgemerktes Kind im Schnitt sieben Bewerberinnen und Bewerber. Adoption ist ein Markt, auf dem die Nachfrage höher ist als das Angebot – und ein globaler Markt. Rund 4 000 Kinder werden in Deutschland jedes Jahr adoptiert, etwa die Hälfte von ihnen allerdings durch Verwandte oder Stiefeltern. Von den verbleibenden Kindern, die in fremde Familien kommen, stammt fast ein Drittel aus anderen Ländern. Die organisierte Vermittlung ausländischer Kinder in deutsche Familien gibt es seit den späten sechziger Jahren. Waren es anfangs Hippie-Eltern, die, oft zusätzlich zu leiblichen Kindern, Kriegswaisen aus Vietnam aufnahmen, wurde die Adoption später vor allem zu einer Möglichkeit für unfreiwillig kinderlose Paare, sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Auch die Herkunftsländer der Kinder änderten sich. »Die Adoptionskarawane zieht weiter, zuerst war es Südostasien, dann Lateinamerika, dann kam Osteuropa und nun ist es Afrika«, sagt Bernd Wacker vom Kinderhilfswerk Terre des Hommes. Die Organisation wurde vor allem mit ihrem Adoptionsprogramm bekannt, hat die Vermittlung allerdings schon Mitte der neunziger Jahre eingestellt und gehört heute zu den Kritikern internationaler Adoptionen.
Es hatte sich gezeigt, dass der Adoptionsmarkt kommerziellen und teilweise illegalen Kinderhandel begünstigte. Die zahlungskräftigen Eltern der Nehmerländer in West- und Mitteleuropa, den USA, Kanada und Australien waren eine begehrte Kundschaft. Und viele von ihnen wandten sich gar nicht erst an Behörden und Organisationen, sondern an private Vermittler oder an Internetagenturen, die Kinderauswahl aus dem Katalog anboten. Diese Praktiken sollte das Haager Übereinkommen zur internationalen Adoption ändern. Es wurde am 29. Mai 1993 auf der Haager Konferenz für internationales Privatrecht verabschiedet und ist in Deutschland seit 2002 in Kraft. Demnach sollen an allen Adoptionsverfahren zentrale Behörden beteiligt werden – und zwar sowohl im Herkunftsland als auch im Aufnahmeland. Vermittlungsstellen müssen von beiden Staaten zugelassen werden und fachliche Qualifikationen nachweisen.

Doch damit ist der Konkurrenzkampf um Kleinkinder nicht beendet. In Deutschland gibt es inzwischen rund ein Dutzend zugelassener Vermittlungsorganisationen, hinzu kommen die Landesjugendämter. Abgesehen von den staatlichen und kirchlichen Trägern sind das oft kleine Organisationen, die ihre Arbeit selbst finanzieren müssen. »Es ist nicht so, dass sich anerkannte Adoptionsvermittlungsstellen in Deutschland eine goldene Nase verdienen«, meint Wacker, »aber um überhaupt existieren zu können, müssen sie jedes Jahr eine bestimmte Zahl Kinder für eine bestimmte Summe vermitteln, das heißt, es müssen auch jedes Jahr zur Adoption ins Ausland freigegebene Kinder zur Verfügung stehen.« Dabei ist die Situation in den meisten Staaten undurchsichtig. Es gibt keine aussagekräftigen Studien über das Verhältnis von Vermittlungsorganisationen, adoptionswilligen Eltern und bedürftigen Kindern. Nach dem Haager Übereinkommen soll eine internationale Adoption nur der letzte Schritt sein. Das lässt sich jedoch kaum überprüfen. Das sei ein strukturelles Problem, betont Wacker: »Es ist nicht so, dass eine Stelle im Herkunftsland sagt, hier gibt es eine bestimmte Anzahl verlassener Kinder, die brauchen Eltern. Stattdessen funktioniert es de facto so, dass die Organisationen aus den Aufnahmeländern zunächst einen Antrag auf Überlassung eines Kindes stellen. Es kommt also immer zuerst die Nachfrage.« Über die Anträge der Vermittlungsorganisationen entscheiden dann die Behörden im Herkunftsstaat. Und während Unterstützungsprogramme und Kinderheime Geld kosten, bringt die Bewilligung von Adoptionen finanzielle Vorteile. In manchen Fällen kann die internationale Adoption tatsächlich die beste Lösung für ein Kind sein, vor allem dann, wenn nicht absehbar ist, dass das Kind bei einer nahen Bezugsperson untergebracht werden kann, und auch keine Einrichtungen bestehen, die eine familiennahe Betreuung ermöglichen. Das gilt vor allem für ältere Kinder, die besondere Aufmerksamkeit brauchen, und für kranke Kinder, die etwa in ihrem Herkunftsland nicht angemessen behandelt werden können. Diese Kinder sind allerdings zugleich viel schwerer zu vermitteln – die meisten Eltern suchen ein gesundes Kleinkind.
Simone Lause ist 1975 im Alter von einem halben Jahr über Terre des Hommes aus Korea gekommen, über ihre Herkunftsfamilie ist nichts bekannt. »Wenn man meine Eltern fragen würde, die würden immer sagen, das war die beste Idee, die wir je hatten«, sagt sie. Sie hat Verständnis für einen oft unkritischen Rückblick: »Die haben da viel Liebe, auch viel Geld investiert, natürlich sind sie zutiefst überzeugt, eine gute Sache getan zu haben.« Doch im Alltag begegnen den Familien oft Schwierigkeiten, die sie überfordern. Internationale Adoptionen sind in den meisten Fällen Adoptionen von People of Color durch weiße Eltern. »Gerade bei uns ist es ja so, dass alle wissen, dass wir adoptiert sind«, sagt Lause. »Es gibt keinen Zweifel, dass ich nicht in dieser Familie geboren bin, und das aufzufangen, ist gar nicht so einfach.« Wichtig sei deshalb, dass die Familien auch nach der Adoption von den Organisationen begleitet werden, sowie der Austausch mit anderen Adoptierten. »Wir haben uns ja manchmal totgelacht, wie wir angesprochen werden, in Ausländerdeutsch – das passierte uns allen täglich.« Die Erfahrungen von Adoptierten werden in der deutschen Öffentlichkeit jedoch wenig wahrgenommen. Und in den Kinderbüchern lassen sich solche alltägliche Schwierigkeiten stets mit Liebe und Pädagogik lösen.

Eine wissenschaftliche Debatte darüber, was es für People of Color heißt, in weißen Familien aufzuwachsen, gibt es bisher hauptsächlich in den USA. »Wenn man Auslandsadoptionen kritisch gegenübersteht, stößt man auf viel Unverständnis«, sagt Lause. »Die Rollen sind da ja ganz klar verteilt. Das sind eben die guten Helfer aus dem Westen, die Kinder in Not retten.« Nicht alle Eltern machen es sich so leicht. Auf dem Blog »Betyie« setzt sich etwa eine deutsche Adoptivmutter äthiopischer Kinder kritisch mit internationalen Adoptionen auseinander – gerade angesichts der eigenen Erfahrungen. Sie fordert, die Prinzipien des Haager Übereinkommens entschiedener durchzusetzen und die Rechte der Kinder und ihrer Herkunftsfamilien zu achten. Dazu gehöre das Recht des Kindes, seine Herkunft zu kennen, und das Recht der Herkunftsfamilie auf Informationen über die Entwicklung des Kindes, aber auch der Respekt der Adoptivfamilie gegenüber dem Herkunftsland, der Herkunftsfamilie und dem Verlust, den jedes Adoptivkind erfährt. Das ist bemerkenswert in einer Debatte, die sich meist um die Rechte der Eltern dreht.
Diese Debatte musste in Deutschland zuletzt oft geführt werden – vor allem, wenn es um die Frage ging, wer eigentlich adoptieren darf. Denn nach wie vor haben gleichgeschlechtliche Paare kein volles Adoptionsrecht. Das »Kindeswohl« wurde bisher vor allem dann angebracht, wenn es darum ging, Schwulen und Lesben die Adoption von Kindern zu verwehren. Das gilt auch für andere Eltern, die bei der Bewerbung um Adoptionen diskriminiert werden. So sieht das deutsche Recht zwar keine strenge Altersgrenze für Adoptiveltern vor, möglich ist aber, dass bei internationalen Adoptionen das Recht des Herkunftslandes angewendet wird und damit Bewerberinnen und Bewerber ab einem bestimmten Alter ausgeschlossen werden. In China erklärten die Behörden vor einigen Jahren, sie würden keine Kinder mehr an »fettleibige Menschen« vermitteln sowie an Menschen, die an Depressionen leiden. In vielen Ländern dürfen alleinstehende oder geschiedene Menschen keine Kinder adoptieren.
Es muss kein Widerspruch sein, gleiche Rechte für alle Adoptionsbewerber einzufordern und die Praxis der Adoption grundsätzlich zu kritisieren. Ein prominentes Beispiel dafür ist der US-amerikanische Wissenschaftler und Adoptionskritiker John Raible – selbst afroamerikanischer Adoptierter in einer weißen Familie, Adoptivvater und schwul. Er schlägt ein Konzept der transracialization als Gegenbegriff sowohl zu einer rassistischen Sozialisation als auch zu einem »blinden« Antirassismus vor, der die Erfahrungen von People of Color in weißen Familien ausblendet. Letztlich wird klar, dass sich alle Adoptiveltern mit der Adoption anders auseinandersetzen müssen als auf Kinderbuchebene. Kein Kind kommt auf einem Blatt den Fluss hinabgesegelt – auch wenn manche Eltern das gerne hätten.