Das syrische Regime und der arabische Nationalismus

Das letzte Gefecht

Mit dem syrischen Regime wird der arabische Nationalismus völkischer Prägung, aber nicht der Islamismus untergehen.

Der britische Journalist Richard Beeston besuchte das Dorf Kawma mehrere Wochen nach dem Luftangriff. Er berichtete von hustenden, um Luft ringenden Überlebenden und einem zwölfjährigen Jungen, dessen Haut Blasen und Verätzungen aufwies. Alles deutete auf den Einsatz chemischer Waffen hin, Einwohner zeigten ihm die Überreste der Bomben. Doch der Uno genügte das nicht als Beweis für den Einsatz von Giftgas.
Der 8. Juni ist der 50. Jahrestag des Angriffs auf das jemenitische Dorf Kawma, bei dem zum ersten Mal seit dem italienischen Kolonialkrieg in Äthiopien in den dreißiger Jahren Giftgas eingesetzt wurde. Als ausreichend erachtete Beweise für den Einsatz chemischer Waffen im Jemen konnten erst 1967 vorgelegt werden. Bis dahin waren zahlreiche weitere Angriffe erfolgt, insgesamt wurden im Jemen mindestens 1 500 Menschen mit Giftgas getötet. Der militärische Verantwortliche war ein Mann, dem wohl jeder Staatschef des Westens die Hand geschüttelt hat. Die Bomberflotte Ägyptens, das im jemenitischen Bürgerkrieg gegen die Royalisten intervenierte, kommandierte ein ehrgeiziger Offizier namens Hosni Mubarak.
Der Erfolg beim Einsatz des relativ leicht herstellbaren Giftgases und »die moderate Antwort der internationalen Gemeinschaft spornten Ägypten an, seine Vorräte an chemischen Waffen aufzustocken. Andere arabische Staaten, insbesondere Irak und Syrien, waren beeindruckt von der ägyptischen Praxis und versuchten, sie nachzuahmen«, urteilte der israelische Forscher Dany Shoham.

Chemische Waffen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich von arabisch-nationalistischen Regierungen eingesetzt: von den ägyptischen Nasseristen in den sechziger Jahren, vom irakischen Ba’ath-Regime Saddam Husseins in den achtziger Jahren und nun vom ebenfalls ba’athis­tischen Regime Syriens. Dafür gibt es möglicherweise ideologische Gründe – es erscheint nicht zufällig, dass die antisemitische Führung einer vom völkischen deutschen Nationalismus geprägten Bewegung so begierig war, sich Giftgas zu verschaffen. Sicher ist, dass auch Saddam Hussein von der moderaten Reaktion der »internationalen Gemeinschaft« profitierte. Die Giftgasangriffe auf Halabja und andere kurdische Ortschaften trübten die in den achtziger Jahren guten Beziehungen der USA zum Irak nicht, erst der Überfall auf die Golfmonarchie Kuwait im August 1990 führte zur Konfrontation. Ein vergleichbares strategisches Interesse gibt es hinsichtlich Syriens nicht.
Den Recherchen der New York Times zufolge war die Äußerung des US-Präsidenten Barack Obama im August vorigen Jahres, der Transport großer Mengen chemischer Waffen und deren Einsatz stellten eine »rote Linie« dar, die spontane Antwort auf die Frage eines Journalisten, die seine Berater überraschte. Obama, aber auch anderen westlichen Politikern, die sich nicht öffentlich festgelegt haben, dürfte der Streit darüber, ob der Einsatz von Giftgas als erwiesen betrachtet werden kann und ob es möglicherweise auch von Aufständischen verwendet wurde, daher gelegen kommen.
Eine ernst zu nehmende Interventionsplanung scheint es nicht zu geben, vor allem ist unklar, wie mit den Jihadisten verfahren werden soll, die mittlerweile erheblichen Einfluss unter den Aufständischen erlangt haben. Soll das Ziel eine Demokratisierung Syriens sein, müssten die Jihadisten entwaffnet werden, das aber würde zu einem Konflikt mit ihren Unterstützern in den Golfmonarchien führen. Unternähme eine westliche Interventionstruppe hingegen nichts gegen jihadistische Gewalt, wäre das nicht nur gegenüber der westlichen Öffentlichkeit schwer zu rechtfertigen, sondern auch eine allzu deutliche Botschaft an arabische Säkularisten und Angehörige religiöser Minderheiten, dass sie sich andere Bündnispartner suchen müssen.
Ein von sunnitischen Jihadisten regiertes Syrien wäre eine Gefahr für Israel, aber auch die anderen Nachbarstaaten – das zumindest dürfte den westlichen Regierungen klar sein. Dennoch überlassen sie den Golfmonarchien faktisch die militärische und politische Führung im Konflikt mit Syrien. Das Zögern, sich auf einen Militär­einsatz mit schwer kalkulierbaren Risiken einzulassen, lässt sich mit innenpolitischen Erwägungen erklären, vor allem in den USA ist die Stimmung auch unter den Konservativen überwiegend isolationistisch. Kaum zu fassen ist jedoch, dass nicht einmal versucht wird, die säkularen Gruppen in der syrischen Opposition zu stärken.

Die Passivität des Westens in der Syrien-Politik folgt der allgemeinen Taktik im Umgang mit den arabischen Aufständen. Nach dem überraschenden Sturz ihrer Verbündeten in Ägypten und Tunesien versäumten die westlichen Politiker nicht vorzugeben, das habe man sich immer schon gewünscht. Doch gilt ihr Interesse vornehmlich dem, was sie unter Stabilität verstehen, daher drängen sie säkulare Parteien, Kompromisse mit den Islamisten einzugehen. Ist ein Interessenausgleich nicht einmal mehr denkbar, wie es in Syrien der Fall ist, herrscht Ratlosigkeit.
Der syrische Bürgerkrieg wird daher mehr und mehr zum Krieg der regionalen Mächte und Russlands. Eine ausländische Intervention hat längst stattgefunden, denn Kämpfer der libanesischen Hizbollah und der iranischen Revolutionswächter stehen an der Seite der Truppen Assads. Die Militarisierung begünstigt die Jihadisten, die am straffsten organisierte und am besten bewaffnete Fraktion unter den Aufständischen. Überdies ist eine Barbarisierung auch bei einigen Gruppen der Aufständischen festzustellen.
Der syrische Bürgerkrieg ist der erste bewaffnete Konflikt, der teils in aufklärerischer Absicht, oft aber auch als war porn in allen scheußlichen Details auf Videos dokumentiert wird. In vergleichbaren Konflikten mag die Brutalität nicht geringer gewesen sein, doch hat man sich ihrer nicht gerühmt. Der jihadistische Kommandant Abu Sakkar hingegen rechtfertigt die auf einem Video dokumentierte Schändung der Leiche eines Milizionärs des Regimes, und auch wenn der rituelle Kannibalismus wohl nur angedeutet wird, ist seine Aufforderung deutlich genug: »Erschlagt die Alawiten und esst ihre Herzen.« Die Freie Syrische Armee, die wichtigste Organisation der Rebellen, hat Abu Sakkars Festnahme angeordnet, kann diese aber offenbar nicht durchsetzen.

Auch die meisten Islamisten dürfte Abu Sakkars bizarrer Auftritt nicht erfreuen, doch können sie ungeachtet ihrer derzeit sinkenden Popularität sicher sein, dass ihre Bewegung in den kommenden Jahrzehnten ein wichtiger Faktor in der Weltpolitik bleiben wird. Für die arabischen Nationalisten der völkischen Schule hingegen ist der syrische Bürgerkrieg das letzte Gefecht. Ihre Bewegung hat keine Anziehungskraft mehr, und ohne die Hilfe der eigentlich ideologisch verfeindeten schiitischen Islamisten aus dem Libanon und dem Iran wäre das ba’athistische Regime wohl schon zusammengebrochen. Die meisten Ba’athisten dürften das nahende Ende zumindest erahnen, doch wohl gerade deshalb wollen sie ein verwüstetes Land hinterlassen.
Der BBC-Journalist Ian Pannell besuchte die syrische Stadt Saraqeb mehrere Wochen nach einem Angriff der Regierungstruppen, bei dem im April Augenzeugenberichten zufolge Giftgas eingesetzt wurde. Einwohner zeigten ihm Kanister, die von einem Hubschrauber abgeworfen worden waren, nach Aussagen des Krankenhauspersonals deuten die Symptome von Überlebenden auf Vergiftung durch Organophosphate hin, zu denen das Giftgas Sarin zählt. Anders als 1963 kann nun jeder auf Videos die um Luft ringenden Überlebenden sehen. Doch die Beweise gelten bislang als nicht ausreichend. Die Geschichte kann sich auch als Tragödie wiederholen.