Der Gedenktag für die Sudetendeutschen in Bayern

Bayerische Stammesrituale

Seit den Anfangsjahren der Bundesrepublik steht die bayerische Politik dem revisionistischen Volkstumskampf der Sudetendeutschen Landsmannschaft zur Seite. Nun hat die Landesregierung einen neuen Gedenktag eingeführt: Ab 2014 wird einmal im Jahr an die Vertriebenen erinnert.

Zum diesjährigen Sudetendeutschen Tag, dem alljährlich stattfindenden kuriosen Stelldichein von Berufsvertriebenen, Trachtenträgern und CSU-Granden, hatte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) ein ganz besonderes Geschenk mitgebracht. Staatsmännisch verkündete er im Mai die Einführung eines offiziellen »Gedenktags für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation« in Bayern. Ab 2014 soll jährlich am zweiten Sonntag im September der Vertriebenen gedacht werden. Zudem würde Seehofer einen bundesweiten Gedenktag begrüßen. Doch da sei er eben nicht »Herr des Verfahrens«.

So blieb es der bayerischen Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) überlassen, festzustellen, dass der bayerische Gedenktag zumindest ein »Signal an den Bund« sei. Der ebenfalls anwesende Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) zeigte sein Unverständnis, dass die Bundesrepublik bislang auf einen solchen Gedenktag verzichte. »An die Wahrheit zu erinnern, ist außenpolitisch wichtig und richtig«, sagte er den Anwesenden. Doch leider gebe es dafür derzeit keine Mehrheit auf Bundesebene.
Die CSU-Politiker leisteten also zu dem Ritual, das beim jährlichen Treffen der Sudentendeutschen Landsmannschaft seit den fünfziger Jahren zwischen bayerischen Politikern und »Heimatvertriebenen« stattfindet, auch in diesem Jahr ihren Beitrag. Die Sudetendeutschen bedanken sich mit ihren Stimmzetteln. Im Herbst steht die bayerische Landtagswahl an.
Diese Verbindung der bayerischen Politik mit dem landsmannschaftlichen Volkstumskampf hat eine lange Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die meisten deutschen Flüchtlinge aus dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei, etwa eine Million, nach Bayern. Die landsmannschaftlich Organisierten unter ihnen bauten bedeutende politische Beziehungen auf und verhalfen der CSU mit ihrem Wählerpotential zur herausragenden Stellung in der bayerischen Politik. Der damalige Ministerpräsident Hans Ehard erhob die Sudetendeutschen zum Dank 1962 gar in den Rang eines »bayerischen Stammes«.
Ihren Aufstieg verdankt die Sudetendeutsche Landsmannschaft auch dem Scheitern der Entnazifizierung. Die Vertriebenenverbände repräsentierten nicht etwa die viel beschworenen unschuldigen Opfer, sondern vor allem nationalsozialistische Täter. So setzte sich das Führungspersonal der Sudetendeutschen Landsmannschaft in der Anfangszeit aus Nationalsozialisten zusammen, die zuvor Mitglieder der Sudetendeutschen Partei und der NSDAP gewesen waren und sich an der Zerschlagung der tschechoslowakischen Republik und der Vernichtung der tschechoslowakischen Juden beteiligt hatten.

Die Forderung aus der Satzung der Landsmannschaft, den »Rechtsanspruch auf die Heimat, deren Wiedergewinnung und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht der Volksgruppe durchzusetzen«, paraphrasiert die völkische Ideologie von »Blut und Boden«. Zudem beinhaltet sie die Drohung, die territoriale Integrität Tschechiens anzutasten. Diese Drohung endet nicht etwa mit dem Tod des letzten Vertriebenen. Deren Status vererbt sich immer weiter, und somit hat die »größte Vertreibung der Weltgeschichte (…) in der Bundesrepublik von 1950 bis 1970 durch Geburten stattgefunden«, wie der Historiker Erich Später schreibt.
Auch die bayerische Plitik gegenüber Tschechien war lange von Ablehnung gekennzeichnet. In der 14jährigen Amtszeit Edmund Stoibers (CSU) ging es diplomatisch äußerst kühl zu. Mit Zornesröte im Gesicht hielt Stoiber auf den Sudetendeutschen Tagen Reden gegen Tschechien. Die Beneš-Dekrete bezeichnete er als »anhaltendes menschenverachtendes und völkerrechtswidriges Unrecht«, die Vertreibung der Deutschen als eine der »größten ethnischen Säuberungen in der europäischen Geschichte«.
Seehofer hingegen stimmt keine Kriegsgesänge auf Sudetendeutschen Tagen an. Während Stoiber an ein Treffen mit der tschechischen Regierung stets die Bedingung knüpfte, mit einer Delegation der Sudetendeutschen Landsmannschaft anzureisen und die Beneš-Dekrete öffentlich anzusprechen, reiste Seehofer 2010 als erster bayerischer Ministerpräsident zu einem Treffen mit dem tschechischen Ministerpräsidenten Petr Nečas nach Prag – ohne eine offizielle Delegation der Landsmannschaft und ohne Nečas öffentlich mit den Beneš-Dekreten zu konfrontieren.
Das Treffen war der Beginn einer Entspannung der bayerisch-tschechischen Beziehungen. Den vorläufigen Höhepunkt bildete eine Reise Nečas’ im Februar nach Bayern. Er redete nicht nur als erster tschechischer Ministerpräsident im Landtag, sondern traf sich auch mit Vertretern der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Dass die Mehrheit der Landsmannschaft die bayerisch-tschechische Annäherung gutheißt, geht vor allem auf das Wirken Bernd Posselts zurück. Der 1956 in Pforzheim geborene CSU-Politiker ist Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe und hat seit etlichen Jahren erheblichen Einfluss auf die bayerische Ostpolitik. Den Dialog der Sudetendeutschen Landsmannschaft mit dem tschechischen Regierungsoberhaupt verkauft er als einen seiner größten Erfolge. Schließlich soll die tschechische Seite im Dialog dazu gebracht werden, die Sudetendeutschen als Opfer der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg anzuerkennen – was angesichts einer Vereinigung, die von überzeugten Nationalsozialisten aufgebaut wurde, geradezu zynisch wirkt.
Allerdings befürworten nicht alle Gruppen aus dem sudetendeutschen Milieu Posselts diplomatische Strategie. Bestes Beispiel ist der Witikobund, der sich in der Nachkriegszeit als Kaderorganisation der Sudetendeutschen gründete und zeitweise von den Behörden als rechtsextrem eingestuft wurde. Die Veranstaltungen des Witikobunds sind, wie Volkstanz und Lesungen in Mundart, fester Bestandteil jedes Sudetendeutschen Tags.

Der Funktionär Hans Mirtes, von 2006 bis 2009 Bundesvorsitzender des Witikobundes, schrieb 2002 an die Adresse tschechischer Politiker, welche territorialen Vorstellungen er hegt: »Es ist nur eine Frage der Zeit, dass ihr Staat zur Disposition steht.« Völkische Ideologen hätten beinahe auch ihre Ablehnung des Besuchs des tschechischen Ministerpräsidenten Nečas in Bayern bekundet. Posselt konnte mit seinem Einsatz gerade noch verhindern, dass Mitglieder der Sudetendeutschen Landsmannschaft gegen Nečas protestieren – vor der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Sollte Posselt mit seiner diplomatischen Strategie im Umgang mit Tschechien scheitern, dürfte er die Hardliner nicht mehr so einfach im Zaum halten können. Da die Sudetendeutsche Landsmannschaft als Minimalziel die Aufhebung der Beneš-Dekrete fordert, dürfte der Dialog mit Tschechien irgendwann an Grenzen stoßen. Den internen Gegnern Posselts käme das nur recht. »Welches Erdbeben werden wir erleben, wenn sich die Sudetendeutschen von ihren Kaffeekränzchen verabschieden und der Wiedergewinnung ihrer Heimat zuwenden?« fragte der Witikone Mirtes bereits 2002.