Über die japanische Geldpolitik

Shinzo Abes Flucht nach vorne

Die japanische Regierung betreibt eine expansive und inflationsorientierte Geldpolitik. Entsteht nicht genug Wachstum, droht eine Schuldenkrise.

Die im Dezember vorigen Jahres gewählte konservative japanische Regierung unter Ministerpräsident Shinzo Abe und seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) versucht, mit einer gewagten wirtschafts- und finanzpolitischen Kehrtwende den langjährigen ökonomischen Niedergang aufzuhalten. Die Strategie, die man als »Neokeynesianismus von rechts« bezeichnen könnte, ist Teil eines umfassenden Programms, das auf die Stärkung der Rolle Japans in der Welt zielt und letztlich eine Flucht nach vorne darstellt.
Zu den Zielen der wieder erstarkenden LDP, die vor drei Jahren nach Jahrzehnten abgewählt worden war, gehören die Änderung der Nachkriegsverfassung von 1947, die Japan auferlegt, nur »Selbstverteidigungskräfte« zu unterhalten, und die symbolische Rehabilitation japanischer Kriegsverbrecher aus dem Zweiten Weltkrieg. Anfang Juni versprach Abe afrikanischen Regierungen Investitionen und engere Kooperation, mit Frankreich schloss er Vereinbarungen zur Zusammenarbeit in der Rüstungs- und Atomindustrie ab. Zugleich eskaliert der Streit mit China um eine nahezu unbewohnte Inselgruppe im Pazifik.

Abe genießt in der Bevölkerung Zustimmungswerte um die 70 Prozent. Der allenthalben regis­trierte neue Optimismus, vor allem in der politischen Führungsschicht Japans, verdankt sich allerdings dem Eindruck, dass dies vielleicht die letzte Chance ist, um Japans Niedergang aufzuhalten. Im Zentrum dieser Neuausrichtung steht die Wirtschaftspolitik, von deren Erfolg es abhängt, ob Japan seinen weltpolitischen Einfluss erhalten kann. Noch Mitte der neunziger Jahre als eines der drei Zentren des globalen Kapitalismus betrachtet, hat Japan als einziges hochindustrialisiertes Land eine von wirtschaftlicher Schrumpfung begleitete Deflation durchlaufen. Über einen Zeitraum von anderthalb Jahrzehnten verloren Aktien und Immobilien stark an Wert, fielen die Preise und sanken die Einkommen. Auf das rasche Wachstum der achtziger Jahre folgte schließlich ein Stillstand. Die Deflation war die Folge einer Krise am Aktien- und Immobilienmarkt: Der Nikkei-Index brach bis 1992 um 60 Prozent ein, bis 2003 erreichte der Verlust 80 Prozent. Die Bodenpreise in Tokio, die sich zwischen 1986 und 1990 verdoppelt hatten, fielen danach innerhalb von zehn Jahren um 60 Prozent. Von 1998 bis 2005 sanken die Löhne zwar um 5,3 Prozent, aber wegen der fallenden Preise blieb die Kaufkraft ungefähr auf demselben Stand. Der Ausbruch der Finanzkrise verschärfte die Deflation abermals. Aus Furcht vor Bankenpleiten vermieden Japanerinnen und Japaner Käufe riskant erscheinender Geldanlagen. Nahezu 50 Prozent der 1 500 Billionen Yen an Privatvermögen (etwa 12,5 Billionen Euro) liegen auf Sparbüchern. Die in bar gehorteten Sparvermögen belaufen sich nach einer Schätzung des Ökonomen Richard Jerram auf etwa 233 Milliarden Euro – vier bis fünf Prozent des Inlandsprodukts. Die dramatische Kapitalvernichtung der neunziger Jahre mündete in eine anhaltende Stagnation. Der Niedergang konnte nur mit umfangreichen Konjunkturprogrammen aufgehalten werden. Der Preis für diese Stabilisierungspolitik ist die weltweit höchste Staatsverschuldung aller OECD-Staaten von derzeit rund zwöf Billionen US-Dollar.

Mit einer Staatsschuldenquote von mehr als 245 Prozent bewegt sich Japan auf einer vollkommen anderen Ebene als die übrigen Industriestaaten. Da der Zinssatz für japanische Staatsschulden jedoch nahe der Null-Prozent-Marke liegt und die Bank of Japan schon lange bei steigenden Zinsen interveniert, stellt die Rekordverschuldung bisher kein reales Budgetproblem dar, zumal der japanische Staat hauptsächlich im Inland verschuldet ist, während zugleich japanische Banken und Fonds neben China zu den Hauptgläubigern der USA gehören. Aber Abe und Haruhiko Kuroda, der neu ernannte Gouverneur der Bank of Japan, sind der Auffassung, dass noch viel mehr Schulden gemacht werden müssten, um ökonomisch Erfolg zu haben. Vor allem versprach Abe eine Schwächung des Yen durch eine extrem gelockerte Geldpolitik. So will die Notenbank innerhalb von zwei Jahren umgerechnet mehr als eine Billion Euro in die Wirtschaft pumpen, vor allem über den Ankauf von Staatsanleihen, börsengehandelten Indexfonds und Immobilienfonds. Ganz im Einklang mit dem Regierungsziel, die Exportwirtschaft zu stärken, verkündete Kuroda ein Inflationsziel von zwei Prozent. Mittels einer kontrollierten Inflation will er Japan von der chronischen Deflation befreien. Dadurch sinke der Wechselkurs des Yen, wovon die Exportwirtschaft profitieren soll.
Um diese expansive und inflationsorientierte Geldpolitik durch eine Erhöhung der Binnennachfrage zu flankieren, hat Abe ein gigantisches Konjunkturprogramm vorgelegt. Anstatt Ausgaben zu kürzen, will er noch in diesem Jahr das primäre Haushaltsdefizit auf 11,5 Prozent steigern. Neben Investitionen in Infrastruktur und Bildung soll dabei vor allem der öffentliche Sektor gestärkt werden. Damit will Abe 600 000 neue Arbeitsplätze schaffen und das Wirtschaftswachstum um zwei Prozent steigern. Was aber über den Erfolg der neuen Wirtschaftspolitik entscheiden wird, ist die Frage, ob es in der nächsten Zeit zu Lohnsteigerungen oberhalb der Inflationsmarke kommen wird, die nicht nur die Konjunktur weiter in Schwung bringen, sondern indirekt auch dafür sorgen würden, dass der Staat seine Steuereinnahmen steigern kann. Um dies zu erreichen, will Abe die Unternehmen dazu bringen, die Gehälter ihrer Beschäftigten zu erhöhen, und gleichzeitig über eine Mischung aus Regulierung und Deregulierung den Arbeitsmarkt stimulieren. Sein Kabinett hat vorige Woche weitere Maßnahmen zur Förderung des Wachstums verabschiedet. Dazu gehört die Förderung der Berufstätigkeit von Frauen, überdies sollen ausländische Unternehmen in Sonderwirtschaftszonen Steuererleichterungen erhalten.

An der japanischen Börse lösten die »Abenomics« einen Boom aus: Seit vorigen Herbst legten die Kurse zeitweise um 80 Prozent zu. Auf die Vorstellung des jüngsten Konjunkturprogramms der Regierung folgten allerdings kühle Reaktionen, viele Wirtschaftsvertreter hatten Steuersenkungen für Unternehmen und Strukturreformen, etwa eine weitere Liberalisierung des Arbeitsmarkts und der Landwirtschaft, erhofft.
Dabei scheint die Strategie der Regierung zunächst aufzugehen. Dank des schwächeren Yen-Kurses und einer leichten Belebung der Weltwirtschaft wuchs das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal aufs Jahr hochgerechnet um real 4,1 Prozent. Seit dem vergangenen Sommer hat die japanische Währung gegenüber dem Dollar gut 30, gegenüber dem Euro sogar knapp 40 Prozent verloren. Falle der Yen um ein Prozent gegenüber dem Dollar, verkündete Toyota kürzlich, steige der Gewinn um 340 Millionen Dollar. Die Großbank UBS errechnete, dass ein Prozent Kursverlust des Yen den japanischen Exporteuren etwa zwei Prozent mehr Gewinn beschere.
Allerdings treten auch die Risiken dieser Politik immer deutlicher zutage. Der schwache Yen verteuert die Importe und insbesondere auf die Einfuhr von Energie ist Japan angewiesen, weil nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima immer noch fast alle der 50 Atomkraftwerke abgeschaltet sind. Zudem sorgen steigende Treibstoffpreise für Unzufriedenheit. Die von vielen Beobachtern erwarteten harten Maßnahmen zur Arbeitsmarktderegulierung und Haushaltskonsolidierung könnten diese Unzufriedenheit verstärken und die Binnenkonjunktur abwürgen.
Sollte das Wachstum zu schwach ausfallen oder ganz ausbleiben, bliebe von den bisher euphorisch begrüßten »Abenomics« nichts übrig als eine Ausweitung der bereits astronomischen Verschuldung. Zum Problem könnte hier vor allem der Anleihenmarkt werden, der jüngst erste Instabilität zeigte. Steigen die Zinsen, könnte Abes Flucht nach vorne in einer Schuldenkrise enden. Diese träfe als erstes die Schuldnerländer der japanischen Investitionsfonds, vor allem die USA, deren schuldenbasiertes Entwicklungsmodell schwer erschüttert werden würde, und könnte eine globale Rezession auslösen.