Wählen Depressive demnächst CDU, SPD oder Grüne?

Arbeiten wie verrückt

CDU, SPD und Grüne haben eine neue Wählerklientel erkannt: Ausgebrannte, Depressive und andere durch Arbeit psychisch Geschädigte.

Die Vermutung liegt nah: Ob man nun SPD oder CDU wählt – es kommt am Ende fast das Gleiche heraus. So haben beide Parteien erkannt, dass die Anzahl derer, die durch ihre Arbeit psychisch krank werden, mittlerweile zu hoch ist. Die Parteistrategen haben sich darüber offenbar Gedanken gemacht, die nun in den Wahlprogrammen nachzulesen sind.
»Die moderne Arbeitswelt eröffnet viele neue Möglichkeiten für die Arbeitnehmer. Aber wir sehen auch mit Sorge die Zunahme von psychischen Erkrankungen in Folge von Stress, Überlastung und dem Druck ständiger Erreichbarkeit durch E-Mail und mobile Kommunikation«, schreibt die CDU in ihrem Programm auf Seite 25. Die SPD stellt in ihrem auf Seite 21 Ähnliches fest: »Druck und verdichtete Arbeitsabläufe führen zunehmend zu psychischen Belastungen am Arbeitsplatz.« Die Grünen konstatieren: »Gut ist Arbeit nur dann, wenn sie nicht krank macht.«

Es scheinen sich also alle einig zu sein: In der deutschen Arbeitswelt stimmt etwas nicht. 2011 wurden bundesweit 59,2 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen registriert. Das ist ein Anstieg um mehr als 80 Prozent in den vergangenen 15 Jahren. Psychische Belastungen sind inzwischen die häufigste Ursache für Frühverrentungen.
Der DGB-Index »Gute Arbeit 2012« kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die repräsentative Umfrage beziffert den Anteil derjenigen, die sich sehr häufig bis oft auf der Arbeit gehetzt fühlen beziehungsweise unter Zeitdruck stehen, auf 56 Prozent. Allein von 2011 auf 2012 stieg der Anteil um vier Prozentpunkte. 54 Prozent der Beschäftigten haben in sehr hohem und hohem Maße den Eindruck, dass sie in der gleichen Arbeitszeit immer mehr leisten müssen. Überstunden gehören zum Alltag. So arbeiten 20 Prozent der Befragten in der Woche zehn oder mehr Stunden über ihre reguläre Arbeitszeit hinaus. Die permanente Erreichbarkeit mittels E-Mail oder Handy führt ebenfalls zu Stress. Dem DGB-Index zufolge müssen 27 Prozent der Arbeitnehmer sehr häufig oder oft außerhalb ihrer Arbeitszeit für den Arbeitgeber erreichbar sein. Von den Vorgesetzten sind etwa 40 Prozent ständig für betriebliche Belange erreichbar.
Die volkswirtschaftlichen Kosten sind erheblich. Nach einem im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erstellten Kurzgutachten von Wolfgang Bödeker und Michael Friedrichs verursachten psychische Störungen im Jahr 2008 Behandlungskosten von knapp 29 Milliarden Euro, wovon annähernd zehn Milliarden auf die Behandlung der psychischen Folgen der Arbeitsbelastung und etwa 19 Milliarden auf die Behandlung arbeitsbedingter psychosomatischer Erkrankungen entfielen. Berücksichtigt man auch den durch Krankheit entstandenen Ausfall an Bruttowertschöpfung, müssten sogar Kosten von 45 Milliarden Euro angesetzt werden. Anfang des Jahres attestierte der »Stressreport 2012« der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin eine gestiegene Zahl psychischer Erkrankungen aufgrund der veränderten Berufsanforderungen.

Die immensen Kosten erklären die Aufmerksamkeit von CDU, SPD und Grünen für die psychischen Auswirkungen der Arbeit. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) warnte anlässlich der Veröffentlichung des »Stressreports 2012«, dass die psychischen Erkrankungen »eines der drängendsten Probleme in der Arbeitswelt« seien. Neben der 2008 von Bund, Bundesländern und den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung verabschiedeten Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) forderte sie weitere dringliche Verbesserungen. Wie genau diese aussehen könnten, blieb jedoch über Monate hinweg unklar. Eine gemeinsame Erklärung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zur psychischen Gesundheit scheiterte in letzter Sekunde an den Arbeitgebern. Zwar erkennen diese die steigenden Fallzahlen. »Es ist falsch, die Gründe für diesen Anstieg der Arbeitswelt zuzuschreiben«, sagte jedoch der Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Unternehmensverbands Metall und Elektro, Bertram Brossardt, auf einer Pressekonferenz in München.
Die Gewerkschaften sind anderer Meinung. Die IG Metall fordert bereits seit längerem, eine »Antistressverordnung« einzuführen, die als eigenständiges Regularium neben dem Arbeitsschutzgesetz stehen soll. »Eine solche Verordnung würde weit mehr bringen als eine Verschärfung des Arbeitsschutzgesetzes«, sagt Christian Plaep, Pressesprecher der IG Metall. Bereits 2012 hat die Gewerkschaft einen Vorschlag für eine solche Verordnung erarbeitet. Sie liest sich jedoch für Betroffene eher wie ein Zeugnis guten Willens. Psychischer Stress ist weitaus schwieriger zu fassen als etwa die Belastung durch hohe Dezibelzahlen von Maschinen. Die IG Metall fordert die Arbeitgeber beispielsweise auf, »die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen, um Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit zu vermeiden«. Klingt gut, aber was heißt es konkret? Ebenso verhält es sich mit dem Paragraphen 6 der Verordnung: »Der Arbeitsrhythmus (›pattern of work‹) muss eine gesundheitszuträgliche und sozial ausgewogene Aufeinanderfolge von Arbeitszeit und Freizeit ermöglichen (keine permanente Erreichbarkeit durch moderne Kommunikationsmittel, Rufbereitschaft, Dienstreisen).« Beugt man sich den Erwartungen des Arbeitgebers jedoch nicht, könnte schnell der Job weg sein. Kann sich der Entlassene dann auf die »Antistressverordnung« berufen?
Hilde Mattheis (SPD), stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgruppe Gesundheit, teilt diese Befürchtungen. »Am schwierigsten wird die Kontrolle einer Antistressverordnung sein. Da liegt im Augenblick noch vieles im Argen«, so die Politikerin. Sie verweist darauf, dass ein einfacher Merkzettel am Schwarzen Brett nichts an der Überlastung der Arbeitnehmer ändern würde. Ihrer Meinung nach sollte eher eine Debatte der achtziger Jahre wieder aufgegriffen werden – nämlich die über die Einführung der 38,5-Stunden-Woche.
Trotz vieler offener Fragen haben SPD, Grüne und Linkspartei kundgetan, dass sie eine Anti­stressverordnung einführen wollen. Die Koalition von CDU und FDP hält das bestehende Arbeitsschutzgesetz für ausreichend. »Es gibt ein gutes Arbeitsschutzgesetz in Deutschland. In diesem hat die Ministerin bereits Ende letzten Jahres durch eine entsprechende Ergänzung klargestellt, dass sich die gesetzlich vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung auch auf psychische Belastungen bezieht«, sagt Christina Wendt, eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Eine grundsätzliche Veränderung der deutschen Arbeitswelt strebt niemand an. Auch der DGB fordert von den Arbeitgebern lediglich einen größeren Beitrag zur Gesundheitsförderung der Beschäftigten wie »Zuschüsse zu sportlichen Aktivitäten, Gesundheitstagen oder Massagen«, also zur gesundheitlichen Selbstoptimierung der Angestellten. Und so sind am Ende die psychisch Erkrankten selbst die Adressaten des Appells zur Veränderung. Der Verband deutscher Zeitschriftenverleger bietet beispielsweise in seinem Seminar mit dem Titel »Zeit- und Selbstmanagement« Unterstützung für Betroffene an. Man lernt, gestiegene Anforderungen gezielt zu meistern, den optimalen Umgang mit der Arbeitsverdichtung, den Stress zu verstehen und die Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Wer erfolgreich teilgenommen hat, braucht wahrscheinlich wirklich keine Schutzverordnung mehr.