Über das Internet, das Private und das Politische

Die Angst der Avatare

Dass irgendwelche Daten, die bereitwillig ins Irgendwo des Internet gepostet, getaggt, gemailt und geliked wurden, nun sorgfältig in mehreren Zettabytes eines Geheimdienstes gespeichert sind, weckt Unbehagen. Dabei ist die globale Datensammlung der NSA nur die Konsequenz einer mittlerweile zum kybernetischen Regime gewordenen technologischen Rationalität.

Die Speicherung und Archivierung unzähliger Daten der globalen E-Kommunikation durch die National Security Agency (NSA) der USA ist ein Skandal, zweifellos. Es hat aber auch etwas von der Big-Brother-Normalität des Computerzeitalters, die schon vor Jahrzehnten von vielen dystopisch prognostiziert wurde. Mithin gibt die Art und Weise, wie mittlerweile international wie national, unfreiwillig wie freiwillig und virtuell wie real mit persönlichen Informationen umgegangen wird, auch Aufschluss über die gegenwärtige Gesellschaft diesseits und jenseits ihrer telematischen Apparate.
»Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!« – Das berühmte Zitat aus Goethes »Faust« hat seinen kritischen Stachel: Faust fühlt sich unwohl inmitten einer Dorfmenge und legt es ihr in den Mund (»Zufrieden jauchzet groß und klein: … «). »Hier bin ich Mensch … « hat sich eine Drogeriemarktkette zum Slogan gewählt; sie animiert seit einiger Zeit ihre Kunden, bei einem Payback-Karten-Programm mitzumachen: »Punkten, Sparen, Profitieren«. Neulich gab es als Reklamegimmick die Payback-Karte mit reflektierender Folienbeschichtung: »Hier bin ich Mensch … « ist da wieder zu lesen, und gleich unter dem Spruch kann man im Taschenspiegelformat sein Gesicht sehen – ein variables, austauschbares Antlitz, ein falscher Schein, der den noch falscheren Schein überstrahlt: dass solche Karten Werbezwecken dienen, sogenannte sensible Daten für Marktforschungszwecke bündeln, also mit Informationen hantieren, die unter politisch widrigen Umständen gegebenenfalls auch das Leben kosten können.
Doch gerade in Hinblick auf den Konsum, der heute selbst beim alltäglichen Einkauf immer auch das Moment von konsumistischer Selbstvermarktung hat, ist der moderne Mensch sehr freigiebig im Umgang mit Informationen über sich und die Seinigen, nebst Interessen, Hobbys und sonstigen Meinungen. »Cookies helfen uns bei der Bereitstellung unserer Dienste. Durch die Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen«, heißt es auf der Google-Suchseite, und los geht die Google-Suche. Dass Facebook-Freundesanfragen aus dem biographischen Nirwana kommen, Ebay und Amazon präzis-absurde »Das könnte Ihnen auch gefallen«-Vorschläge machen, wird in der Regel als obskur abgetan. In Zweifelsfällen wird den Datenschutzexperten vertraut. Die Gefahren sind Phishing-Attacken, Internetbetrug, Hacking. Vorratsdatenspeicherung und die elektronische Gesundheitskarte, überhaupt die soziale Verpflichtung, am elektronischen Leben teilzunehmen, erscheinen eher als unproblematisch. Unheimlich wird dieses Leben erst, wenn aus der Datenspeicherung Datenklau, aus dem Datenklau Datenmissbrauch wird. Und das ist die Assoziationskette, mit der, gegenwärtig etwa beim NSA-Skandal, Meinungsbildung betrieben wird.

Inszeniert wird das so, als ginge es um die Verteidigung der Technik gegen die Technik; im System aus Microsoft, Google, Facebook etc. wird eben dieses System kritisiert. Zur Chimäre wird medial aufgebauscht, nun auch als Avatar im Internet vor nichts mehr sicher sein zu können – die Belange politischer Subjekte bleiben dabei außen vor. Formiert hat sich damit ein Diskurs, der die alten Debatten um das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre schon längst hinter sich gelassen hat.
Indes gehört zu den – wenigstens nominellen – Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft der Schutz des Privaten, das gleichwohl, wie das persönlichkeitsrechtliche Pendant Öffentlichkeit, seit jeher durch die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft charakterisiert ist. Errungenschaften sind das Private und Öffentliche nur relational, in Hinblick auf das gesellschaftliche Verhältnis von Staat und Individuum; die Widersprüche sind substantiell und haben mit der spezifischen ­politischen Ordnung in der modernen Gesellschaft und ihrem Gewaltzusammenhang zu tun. Zur Idee bürgerlicher Freiheit gehört auch die Interessenvertretung. Die dabei sich ergebenden Konflikte sind Ausdruck der Herrschaftsbeziehungen; und je mehr solche Konflikte überhaupt mit Verweis auf öffentliche und private Rechte artikuliert werden können, desto größer scheint das – loyale – Vertrauen in die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft zu sein.
Was dem zuwiderläuft, ist die historische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft selbst, ihre Transformation von einer demokratischen in eine postdemokratische Ordnung. Thematisiert wird das erstmals, im Zuge der Protestbewegungen in den Sechzigern, Anfang der siebziger Jahre; Jürgen Habermas’ »Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus« von 1973 galt schon dem Titel nach als Diagnose. Moniert wurde der »Verfall des öffentlichen Lebens« (Richard Sennett); gegen den immer mehr das Alltagsleben bestimmenden »Medienverbund« (Oskar Negt /Alexander Kluge) experimentierten linke Gruppen mit verschiedenen Formen der Gegenöffentlichkeit, gründeten Radiostationen, Zeitungen oder Videogruppen. Die Macht des Staats über die Öffentlichkeit war noch weitgehend von Lüge, Halbwahrheit oder Falschmeldung bestimmt. Mit dem Ende der bürgerlichen Öffentlichkeit entstand eine »Scheinöffentlichkeit« (Negt/Kluge), die seither mit Privatfernsehen und schließlich Internet in den Neunzigern allgegenwärtig geworden ist.

Eine ähnliche Dialektik prägt auch die gesellschaftlichen Veränderungen des Privaten. Die »Tyrannei der Intimität« (Sennett) bedeutete jedoch keineswegs eine unbedingte Stärkung der Privatsphäre; vielmehr verwandelte sich das ­Private – wieder maßgeblich in den Siebzigern – in einen Privatismus, das heißt eine Ideologie der fortschreitenden Individualisierung. Sukzessive wurden die Bürger »entbürgerlicht« beziehungsweise als soziale Subjekte entsozialisiert. Die kritische Theorie fasst das als »verwaltete Welt«: Das Politische wird aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen abgezogen, der Staat und seine Institutionen werden vom Primat der Administration bestimmt.
Entscheidend wird aber in den Siebzigern und Achtzigern etwas zunächst sehr Beiläufiges, nämlich die Verkettung dieser – in der Grundstruktur auch schon von Max Weber beschriebenen – Bürokratisierung mit Technik beziehungsweise, genauer, mikroelektronischer Informationstechnologie. Den zugrunde liegenden Prozess hatte Herbert Marcuse bereits 1941 in seinem Essay »Einige gesellschaftliche Folgen moderner ­Technologie« und später, 1964 dann, in »Der eindimensionale Mensch« analysiert: »Heute verewigt und erweitert sich die Herrschaft nicht nur vermittels der Technologie, sondern als Technologie, und diese liefert der expansiven politischen Macht, die alle Kulturbereiche in sich aufnimmt, die große Legitimation. In diesem Universum liefert die Technologie auch die große Rationalisierung der Unfreiheit, autonom zu sein, sein Leben selbst zu bestimmen. Denn diese Unfreiheit erscheint weder als irrational noch als politisch, sondern vielmehr als Unterwerfung unter den technischen Apparat, der die Bequemlichkeiten des Lebens erweitert und die Arbeitsproduktivität erhöht. Technologische Rationalität schützt auf diese Weise eher die Rechtmäßigkeit von Herrschaft, als dass sie sie abschafft, und der instrumentalistische Horizont der Vernunft eröffnet sich zu einer auf rationale Art totalitären Gesellschaft.«
Verstetigt wurde dieser Prozess einer, wenn man so will, »technologischen Totalisierung« in den Siebzigern und nachfolgenden Jahrzehnten mit der beschleunigten Entwicklung der Informatisierung und Computerisierung der Gesellschaft, die gerade unter diesem Gesichtspunkt prominent von Jean-François Lyotard als »­postmodern« charakterisiert wurde. Lyotards in diesem Zusammenhang formulierte These vom Ende der Metageschichte findet heute ihren ­Widerhall durchaus auch im NSA-Skandal und der strukturellen Unfähigkeit, hier mit einer ­gegentechnologischen Utopie zu intervenieren. Allerdings war diese Entwicklung noch in den Siebzigern und Achtzigern sehr ambivalent: Die polizeilichen Verfahren der Rasterfahndung weckten Unbehagen; eine bereits für 1981 geplante Volkszählung wurde 1983 erfolgreich boykottiert und dann mit nur spärlichen Erhebungsresultaten 1987 nachgeholt.
Nichtsdestotrotz kam hier erstmals die Verteidigung der Technik gegen die Technik zum ­Tragen: individualisierte Maschinen gegen den großen Apparat. Der PC, also der Personal ­Computer, brachte die entscheidende Wende, der in den Neunzigern Mobiltelefone sowie Laptops und schließlich, seit der Jahrtausendwende, Smartphones und Tablets folgten. Im Orwelljahr führte Apple den Macintosh mit dem Spruch ein: »On January 24th Apple Computer will introduce Macintosh. And you’ll see why 1984 won’t be like ›1984‹.« Bis heute hält sich diese »kalifornische Ideologie« (Richard Barbrook/Andy Cameron), dass die Computertechnologie, das Internet, die digitalen Medien etc. die Menschen wenn schon nicht als Produzenten, so doch wenigstens als Konsumenten zu Wächtern ihrer Apparatewelt machen würden.
Doch selbst die ohnehin nur ideologisch virulenten Differenzen zwischen Individualtechnik (eben der PC) und den Großapparaten, den Riesenservern und der telematischen Industrie sind längst nivelliert. Die Taylorisierung des Lebens funktioniert auch unter Bedingungen des Postfordismus: Alle Programme lassen sich nach dem Prinzip des one best way optimieren, auch und gerade wenn dieser way ein Daten-Highway ist, nämlich, in seiner totalen Struktur, das Internet.
Das »Global Village« (Marshall McLuhan) ist zur »Megamaschine« (Lewis Mumford) mutiert; und wie in den realen Riesenstädten wird auch der virtuelle Raum unwirtlich (wo er ja ohnehin unbewohnbar ist) und macht sich im »Second Life« ein Unbehagen breit. Dieses Unbehagen ist wohl ein Erschrecken darüber, dass durch den NSA-Datenspeicherungsskandal das Internet plötzlich in seinen Gesamtausmaßen vorstellbar-unvorstellbar geworden ist: ein globales Netz, dessen gesamter Informationsverkehr mehrfach an einem Ort konzentriert als quasi Backup vorliegt – eine bizarre Version des Weltgeistes. »Hier ist der Weltbevölkerung wahre Hölle/Stumm und selbstlos rauschend:/›Hier bin ich Avatar!‹« Das reicht zum Sein, wenn auch nicht zum Leben.