Die verleumderische Berichterstattung über das Berliner Flüchtlingscamp

Camp unter Beschuss

Nachdem die Boulevardpresse fälschlich berichtete, im Flüchtlingscamp in Berlin-Kreuzberg sei eine Frau vergewaltigt worden, fürchten die Bewohner die Räumung.

Die Flüchtlinge vom Protestcamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz wehren sich gegen die Behauptung, Männer aus ihren Reihen hätten Frauen vergewaltigt. Am Montag veröffentlichten sie eine Erklärung, in der sie entsprechende Berichte von Berliner Boulevardzeitungen als haltlos zurückweisen. Die fraglichen Übergriffe hätten sich nicht im Camp zugetragen. Bei dem mutmaßlichen Täter handele es sich nicht um einen Flüchtling, sondern um einen Unterstützer.

Am Anfang stand ein Bericht auf der Internetplattform Indymedia, der am 24. Mai dort eingestellt wurde. In ihm kritisiert eine Unterstützerin »wie im Refugee-Protest-Camp mit ›Rape‹ und anderen sexuellen Übergriffen umgegangen wird«. Darin heißt es: »Mein persönlicher Kontakt zu besonders einem Mann innerhalb der Campstruktur wurde sehr eng, bis es schließlich zu der Situation kam, dass er sich nahm, was ihm, seiner Ansicht nach, zustand.« Weiter schreibt sie: »Warum ich nun doch möchte, dass diese Geschichte publik wird, liegt daran, dass ich hundertprozentig weiß, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits der dritte ›Rape‹-Fall innerhalb des Refugee-Protest-Camps war.« Nähere Details zum Täter oder zu den Taten nennt sie nicht. Der Text blieb von der Öffentlichkeit lange unbeachtet, bis vor wenigen Tagen unter anderem die Bild-Zeitung vom »Sex-Verbrecher im Flüchtlingscamp« schrieb und einen angeblichen Sprecher des Camps mit den Worten zitierte: »Jede Frau, die hier nachts reingeht, muss damit rechnen, vergewaltigt zu werden.« Staatssekretär Bernd Krömer (CDU) drohte dem Camp prompt mit Räumung: »Die Polizei wird die Ermittlungen mit voller Kraft vorantreiben. Der Senat duldet keinen rechtsfreien Raum.« Tatsächlich soll sich der Vorfall vom Dezember jedoch in einer Wohnung zugetragen haben, der beschuldigte Mann und die Frau hatten sich offenbar bei ihrer Tätigkeit als Unterstützer des Camps kennengelernt. Eine Gruppe des Camps hatte damals versucht, den Vorfall aufzuarbeiten. Warum die Frau in ihrem Bericht auf Indymedia diese Umstände nicht benannte und deshalb die Campbewohner in Verdacht geraten ließ, ist unklar. Die jedenfalls sind wütend, vor allem auf die Zeitungen. Der Vorfall werde »komplett falsch von populistischen Medien aufgegriffen, um den Räumungsdruck auf das Protestcamp zu erhöhen«, heißt es in ihrer Stellungnahme. Der von Bild zitierte »Flüchtlingssprecher« sei »weder Sprecher, noch am Oranienplatz beteiligt«. Zu allem Überfluss bestreite er, den von der Zeitung kolportierten Satz überhaupt gesagt zu haben. Sexismus werde hier in eine »rassistische Argumentation eingebunden, die rassifizierte Männer automatisch mit sexualisierter Gewalt in Verbindung setzt«.

Die Vergewaltigungsberichte kamen für das Camp zur Unzeit. Während die Medien in den ersten Monaten nach der Besiedlung des Platzes im Oktober 2012 überwiegend wohlwollend berichteten, ist das Camp seit einiger Zeit politischen Angriffen ausgesetzt. Im Juni stach ein Deutschtürke mit einem Messer auf einen Bewohner des Camps ein. Es gab Tumulte, die Polizei rückte mit 250 Beamten an, setzte Pfefferspray und Schlagstöcke ein – und nahm neun Campbewohner fest. Die Flüchtlinge, frustriert, weil sich nach Monaten des Protests politisch nichts tut, begannen, vormittags die Straße vor dem Camp zu blockieren, so dass eine Buslinie umgeleitet werden musste. Ein CDU-Abgeordneter sammelt Unterschriften für die Räumung des Camps. Der Publizist Gunnar Schupelius befand: Das Camp habe den »Frieden gestört« und müsse weg. Der Versuch des Bezirksbürgermeisters, Franz Schulz (Grüne), einen Runden Tisch zu organisieren, scheiterte: Der Senat weigerte sich, teilzunehmen. Am Montag rief die BZ einen »Hygiene-Alarm im Flüchtlings-Camp« aus und warnte vor »Ratten« und »Gestank«. Wie lange sich das Camp gegen die Attacken von Politikern und Boulevardpresse behaupten kann, ist offen. Die offenbar aus taktischen Gründen gerade jetzt aufgegriffenen Vergewaltigungsvorwürfe haben die Lage der Flüchtlinge jedenfalls erheblich erschwert.