Die erste Besteigung des olympischen Mytikas ist heute 100 Jahre her

Rauf auf den Mytikas

Vor 100 Jahren wurde der Gipfel des höchsten Bergs im Zentralmassiv des Olymp erstmals bestiegen.

Als der Schweizer Fotograf Fred Boissonnas mit seinem Freund, dem Künstler Daniel Baud-Bovy, den Gipfel des griechischen Mytikas vor 100 Jahren, am 2. August 2013, erreichten, war ein Mann bei ihnen, der noch kurz zuvor der Meinung war, nur Adler würden es dort hinauf schaffen. Der Hirte Christos Kakalos kannte sich im Olympmassiv hervorragend aus, verstand sich jedoch keinesfalls als einfacher Träger und war nicht bereit, überhaupt irgendetwas anderes zu tragen als sein Gewehr. Auch das Tragen der Tasche mit Kameraausrüstung lehnte er entschieden und erfolgreich ab. Boissonnas, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur die Architektur, sondern auch das Alltagsleben der Griechen fotografisch dokumentiert hatte, und Baud-Bovy hissten schließlich nach der erfolgreichen Erstbesteigung die schweizerische Flagge. Nach ihrem griechischen Begleiter ist heute lediglich eine Hütte im Olymp benannt.
Dass die beiden Schweizer es auf den Berg geschafft hatten, wurde weltweit vermeldet. In der griechischen Mythologie, die dem Bildungsbürgertum jener Tage gut bekannt war, ist der Olymp mit seinen insgesamt 50 Gipfeln schließlich nicht weniger als der Berg der Götter. Bewohnt wird er von den zwölf Göttern Zeus, Poseidon, Hera, Demeter, Apollon, Artemis, Athene, Ares, Aphrodite, Hermes, Hephaistos und Hestia. Seine höchste Erhebung, der 2 917 Meter hohe Mytikas, stellten sich die Hellenen als einen mit Licht erfüllten Ort vor. Zeus selber sorge allerdings dafür, dass der Berg und seine kaum weniger imposanten Nebengipfel durch Wolken vor den neugierigen Blicken der Menschen verborgen bleiben. Das Massiv ist bis heute immer noch meist hinter Nebel versteckt. Für die Erstbesteiger muss dieser Anblick überwältigend gewesen sein, er sei »nicht von dieser Welt«, berichteten die beiden später.
Die Schweizer konnten bei ihrem Abenteuer froh sein, überhaupt einen wie Christos Kakalos gefunden zu haben. Damals stiegen nicht viele Menschen überhaupt so hoch hinauf, vor allem nicht, wenn oben viel Schnee lag und es bitterkalt war. Boissonnas war von Sir Douglas Freshfield von der Royal Geographical ­Society in Großbritannien noch vor der Besteigung eindrücklich gewarnt worden: »Was die Entwicklung des Bergsports in Griechenland anbelangt, so ist alles noch zu tun. Die Bewohner haben absolut kein Verständnis für die Berge.« Bei der zweiten Besteigung im Jahr 1919 nahm Boissonnas den Hirten Kakalos gar nicht mehr mit. Stattdessen stieg er mit seinem Sohn Henri und dem Freund Daniel Baud-Bovy allein hinauf zum Gipfel, Ausrüstung und Kameras trugen sie wieder selbst.
Boissonnas sind die Erinnerungen ans Gepäckschleppen bei der Erstbesteigung von 1913 gut in Erinnerung geblieben: »Wir mussten die Geräte und den großen Gipfel ohne Träger bezwingen. Sie wollten nicht weiter gehen als über den für die Maultiere noch zugänglichen runden Bergrücken des Skolion. Zitternd vor Angst warfen sie sich auf die Knie und beteten die Panagia, so lange sie uns über den schwindelnden Hängen klettern sahen. Bei alledem handelte es sich um wetterfeste Bergleute, die keinesfalls sentimental veranlagt waren; einer von ihnen war doch sogar Mitglied jener Bande gewesen, die im Jahre 1911 die türkischen ­Polizisten aus dem Hinterhalt bei Kokkinopilos überfallen und niedergemacht hatte.« Diese Region war zu jener Zeit von den Türken besetzt, eine Genehmigung zur Besteigung des Gipfels war von den türkischen Behörden nicht leicht zu bekommen gewesen. Es interessierte sich auch kaum jemand dafür. Der Olymp war »unbekannter als die meisten Gegenden Zentralafrikas und das Olympgebirge das berüchtigste Räubernest Europas«, wie es in zahllosen Beschreibungen aus jener Zeit hieß.
Die beiden Schweizer Eroberer und ausgewiesenen Philhellenen Fred Boissonnas und ­Daniel Baud-Bovy hatten den Olymp gut einen Monat vor ihrer Besteigung vom Schiff aus gesichtet. Sie waren schlichtweg überwältigt, als der Gipfel sich ihnen kurz vom Nebelschleier befreit präsentierte. Statt ihre lang geplante Reise über das Meer in die rund 80 Kilometer entfernte Hafenstadt Thessaloniki fortzusetzen, ließen sie sich sofort an dem kleinen Hafenort Litochoro ausschiffen. Und machten sich dann schnell zum Olymp auf, um ihn am 2. August 2013 schließlich erfolgreich zu besteigen. Damit hatten sie mehr Glück als der deutsche Wissenschaftler und Vorläufer der interdis­ziplinären Afrikawissenschaften, Heinrich Barth, der zwar oft als Erstbesteiger des Olymp genannt wird, es aber nie auf den höchsten Gipfel des Massivs schaffte.
Der Genfer Alpinist Boissonnas war das, was man einen umtriebigen Menschen nennt. Er arbeitete unter anderem als Werbefotograf für Suchard und Nestlé, doch bald zog es ihn immer wieder zum Olymp. Er war getrieben von der fixen Idee, in dieser vergessenen Gegend der Präfektur Mazedoniens ein riesiges Skigebiet zu erschließen. Boissonnas träumte zudem von schicken Sommer- und Winterkurorten, von mondänen Hotels, einer »olympischen Riviera« und einem Golfplatz im Tal; und vielleicht sogar von einem Flugfeld. Aus all dem ist nichts geworden. Zwar sieht man in dem kleinen Skigebiet am Berg der Götter bis in den späten April hinein noch griechische Ski- und Snowboardfahrer die Hänge des Olymp hinunterwedeln oder Langläufer auf den Hochebenen durch die Loipen ziehen – massenhafte Begeisterung für den Skisport gibt es allerdings nicht, obwohl dort bis weit in den Mai noch Schnee liegt. Der Olymp taugt jedoch auch kaum für professionellen und kommerzialisierten Wintersport: Das Gebiet ist mittlerweile ein griechischer Nationalpark und steht damit unter einem gewissen Schutz, die Unesco hat das Gebirgsmassiv in den achtziger Jahren zusätzlich in den Rang eines Biosphärenreservats erhoben.
Die beiden Erstbesteiger erlebten es noch, dass plötzlich eine andere Fahne neben der von ihnen gehissten wehte. Im Mai 1941 ließen deutsche Gebirgsjäger die Hakenkreuzfahne auf dem Hauptgipfel des Mytikas wehen. Zwei Jahre später, im April 1943, bombardierte die deutsche Luftwaffe die Berghütten am Olympmassiv. Sie vermutete dort Widerstandsnester der griechischen Partisanen.
Heute besuchen über 120 000 Menschen jährlich das Bergmassiv, vornehmlich um zu wandern und zu klettern. Mit dem Auto kann man schließlich bequem auf 1 100 Meter Höhe gelangen. Gut 10 000 Touristen schaffen es sogar bis auf den Gipfel des Mytikas. Vier Stunden dauert der Aufstieg mit moderner Ausrüstung selbst heute noch.