Zum Ergenekon-Prozess in der Türkei

Auch nicht richtig

Das Ergenekon-Verfahren in der Türkei ist der falsche Weg der Abrechnung mit dem »Tiefen Staat«.

Während Anhänger des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan an die Gerechtigkeit des Ergenekon-Prozesses glauben wie Fußballfans an ihre Mannschaft, sind seine Kritiker gespalten. Insbesondere im kemalistischen Lager wird das Verfahren schroff abgelehnt, doch häufig hört man auch, dass es sowohl richtig als auch falsch sei: Trotz vieler Ungerechtigkeiten und Verfahrensfehler habe es dazu beigetragen, den »Tiefen Staat« zu schwächen, und so falsch sei die Verurteilung einiger rechter Hetzer nicht. Zugegebenermaßen gehörten viele derjenigen, die zuerst festgenommen wurden, wie der pensionierte General der Gendarmerie, Veli Küçük, und der Anwalt Kemal Kerinçsiz, der unter anderem Hrant Dink und Orhan Pamuk wegen »Beleidigung des Türkentums« angezeigt hatte, zu den unsympathischsten Vertretern der türkischen Politik.
Andererseits wurde nicht eine einzige der Straftaten, die in der Türkei in Zusammenhang mit dem »Tiefen Staat« gebracht werden, beim Eregenekon-Verfahren aufgeklärt. Auch zur Aufklärung des Mordes an Dink hat es nichts beigetragen. Dabei hatten die Ermittlungen erst mit dem Versprechen, den Mord an dem armenischen Journalisten aufzuklären, richtig angefangen. Dieses Versprechen gab der Regierung moralische Glaubwürdigkeit. Das ist lange her und nun kann ein Gericht mit frecher Stirn behaupten, die Gruppe um den jugendlichen Mörder Dinks bestehe nicht aus Terroristen. Nach der Logik im Ergenekon-Prozess wurde dieser Mord aber doch irgendwie im Auftrag der schlimmsten Terrororganisation begangen, die die Türkei je gekannt hat. Mit noch frecherer Stirn hatten Erdoğan und seine Beamten es zuvor verhindert, dass gegen die Polizisten, die den Mordvorbereitungen elf Monate lang ruhig zugesehen hatten, auch nur ermittelt wurde. Wenn Ergenekon eine Terrororganisation sein soll, die mit Teilen des Staatsapparates zusammenarbeitet, warum sind dann nur Soldaten verdächtig und nicht auch Polizisten?
Allerdings muss festgehalten werden, dass die unter dem Applaus der EU durchgeführten Reformen zur angeblichen Demokratisierung der ­Türkei zugleich die Verfolgung von Regierungsgegnern durch solche Verfahren erst ermöglicht haben. Die Abschaffung der Staatssicherheits­gerichte erlaubte die Einführung neuer Sondergerichte. Das neue Antiterrorgesetz ebnete den Unterschied zwischen der Mitgliedschaft und der Unterstützung einer terroristischen Organisation ein. Ungestört konnten die neuen Gerichte und die mit ihnen geschaffenen Staatsanwaltschaften darangehen, monströse Verschwörungstheorien zur Grundlage von Verfahren und Strafen zu machen.
Viele Medien sahen darüber hinaus in der Unterstützung des Ergenekon-Verfahrens eine politische Pflicht. Der Autor dieser Zeilen war selbst einmal anwesend, als ein junger Journalist der Zeitung Taraf den Vertreter einer religiösen Sekte fragte, ob er ihm nicht einige »Ergenekonler« nennen könne, also Anwälte, die der Sekte Schwierigkeiten bereiteten. Einmal als »Ergenekonler« durch Taraf geoutet, konnte man fast ­sicher mit einem morgendlichen Besuch von Polizei und Staatsanwaltschaft rechnen. Dabei wurden dann die Computer mitgenommen und die gesetzliche Vorschrift, dass bei der Beschlagnahme eines Computers zuerst eine Kopie zu machen und er zu versiegeln ist, einfach ignoriert. Alleine diese Tatsache erlaubte jedwede Manipulation.
Ein Verfahren wird nicht dadurch besser, dass man denkt, es habe »nicht die Falschen« getroffen. Eine Justiz und ein Polizeiapparat, die jeden zermalmen können, sind nicht weniger schädlich als ein »Tiefer Staat«.