Über den Jihadismus im Jemen und die schlechten Perspektiven des Landes

Das Surren über der Wüste

Nur der Ableger von al-Qaida im Jemen erregt internationales Aufsehen. Doch die Jihadisten sind nur eine von zahlreichen Frakionen in einem unübersichtlichen Konflikt.

Es klang sehr dramatisch. Die Amerikaner gaben bekannt, dass man ein Gespräch zwischen Ayman al-Zawahiri, dem obersten Anführer von al-Qaida, und einem Führer des erfolgreichen jemenitischen Ablegers »al-Qaida auf der arabischen Halbinsel« (Aqap) abgehört habe. Daraufhin schlossen zahlreiche amerikanische Botschaften in islamischen Ländern und im Jemen auch andere westliche Botschaften.
Der Jemen, das vergessene Land des »arabischen Frühlings«, war wieder einmal als Terrorstützpunkt in den Schlagzeilen. Ob die Bedrohung real war oder ob es sich bei all dem nicht doch um eine Werbemaßnahme für die amerikanischen Abhörprogramme handelte, ist unklar. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass Berichten westlicher Beobachter zufolge die Sicherheitslage in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa auch nach dem hastigen Ausfliegen des nicht unmittelbar benötigten amerikanischen Personals unverändert blieb. Es gab nicht einmal mehr Checkpoints auf den Straßen als gewöhnlich, allein das ununterbrochene Motorgeräusch amerikanischer Aufklärungsflugzeuge rüttelte an den Nerven der Bewohner, die seltsame Geräusche aus der Luft längst mit Drohnen assoziieren.
Die jemenitische Regierung sorge für noch mehr Verwirrung, als sie verkündete, man habe ein großangelegtes Komplott von al-Qaida verhindert, geplant gewesen seien Angriffe auf Ölstationen und die Eroberung von Mukalla, einer großen Hafenstadt im Süden des Landes. Das klang überraschend, denn nach den wenigen ­öffentlich zugänglichen Informationen über Aqap dürfte diese eher nicht die Logistik und Kampfkraft besitzen, eine Großstadt einzunehmen. Andere jemenitische Regierungsvertreter widersprachen auch prompt diesen Behauptungen.

Real waren jedenfalls die folgenden amerikanischen Drohnenangriffe. Das erste Ziel waren zwei Fahrzeuge in Marib, einer Wüstenregion im Norden, die für ihre rebellischen Stämme und fehlende Regierungskontrolle bekannt ist, es folgten Angriffe im Südjemen. Das jemenitische Verteidigungsministerium sprach nach einer Woche von schäzungsweise 34 Toten, von denen ungefähr ein Dutzend Zivilisten gewesen seien. Überprüfbar ist das alles nicht. Und es liegt an solchen Vorkommnissen und Zahlen, dass Verbitterung in den Kommentaren in der jemenitischen Presse deutlich wurde, zumal die jüngsten Angriffe zur Zeit des Fastenbrechens stattfanden, einer Periode der Familientreffen und Hochzeiten, die vielleicht ein wenig der Weihnachtszeit in der westlichen Welt vergleichbar ist.
Beim Einsatz von Drohnen werden keine amerikanischen Soldaten gefährdet, deshalb hat US-Präsiden Barack Obama dieses scheinbar so praktische Vorgehen auch im Jemen etabliert. Doch schon der erste große Drohnenangriff traf im Dezember 2009 kein Camp von Aqap, sondern ein Beduinenlager und tötete 55 Zivilisten. Ein andermal wurde ein stellvertretender Provinzgouverneur zum Ziel.

Die Probleme mit der Zielfindung für die Drohnenangriffe verweisen dabei auf ein generelles Problem der amerikanischen Jemen-Politik: Sie ist einseitig auf die Bekämpfung von »Terroristen« ausgerichtet und wird den komplizierten Verhältnissen im Land nicht gerecht. Und so selbstherrlich sich die Amerikaner im jemenitischen Luftraum aufführen können, sie bleiben am Boden auf die Informationen und die Mitarbeit jemenitischer Militärangehöriger angewiesen, die mitunter eigene Ziele verfolgen.
So war die jemenitische Armee schon vor dem Abgang von Präsident Ali Abdullah Saleh in konkurrierende Fraktionen gespalten, und dieses Problem hat sich weiter verschärft. Nicht zuletzt die Versuche des Übergangspräsidenten Abd Rabbuh Mansur Hadi, der engeren Verwandtschaft Salehs, aber auch der Klientel von dessen altem Intimfeind General Ali Mohsen al-Ahmar wichtige Kommandoposten zu entziehen, haben zu zahlreichen Meutereien, eigenmächtigen Kommandeurswahlen, Scharmützeln zwischen Militäreinheiten und Selbstauflösungen von Abteilungen geführt – letzteres natürlich nicht, ohne dass die Waffen auf dem nächsten lokalen Markt zum Kauf angeboten wurden. Selbst von den USA ausgebildete Eliteeinheiten für den Antiterrorkampf haben zuweilen schon mal einfach ihre Stellungen verlassen.
So überlegen die militärische Schlagkraft der Amerikaner auch ist, sie ruht im Jemen auf einem äußerst schwachen Fundament. Und so sehr sich die Kämpfer von al-Qaida vom Surren der Drohnen gehetzt fühlen mögen, wenn sie in der Dämmerung in klapprigen Jeeps durch Wüstentäler brausen, die Antiterrorpolitik Obamas im Jemen erscheint nicht weniger hilflos und getrieben. Im Gegensatz zu den Ablegern von al-Qaida in anderen Weltgegenden rekrutieren sich die jemenitischen Jihadistengruppen eher aus der lokalen Bevölkerung, und auch wenn sie die überwältigende Mehrheit der Jemeniten nicht besonders sympathisch findet, aufgrund von Verwandtschaftsbeziehungen und Stammesloyalitäten sind gerade die Drohnenangriffe mittlerweile zu einer der wirkungsmächtigsten Anwerbungsmaßnahmen der Jihadisten geworden, wie viele Jemeniten beklagen.

Dabei hat das Land noch ganz andere Sorgen als Jihadisten. Nach einer Schätzung des jemenitischen Innenministeriums verursachen Konflikte um Wasserressourcen und Landnutzung jährlich rund 4 000 Todesfälle, da kann al-Qaida nicht mithalten. Schätzungen sagen voraus, dass Sanaa mit seinen über vier Millionen Einwohnern 2025 kein Wasser mehr haben wird. Von den 25 Millionen Jemeniten sollen einer UN-Agentur zufolge über zehn Millionen nicht genug zu essen haben, eine Million Kinder seien unterernährt.
Die politischen und staatlichen Verhältnisse sind ähnlich verheerend. Der jemenitische Staat ist schwach, bewaffnete Stämme kontrollieren weite Gebiete ohne nennenswerte Regierungspräsenz. Im Norden haben sich die Houthis, eine Gruppe aus der schiitischen Minderheit der Zaiditen, rund um die Stadt Saada nach einem jahrelangen Krieg als regionale Machthaber etabliert und beginnen mutmaßlich mit iranischer Unterstützung ähnlich wie die Hizbollah aufzutreten. Im Süden fordert eine in sich fragmentierte Unabhängigkeitsbewegung die Eigenstaatlichkeit, auch hier gibt es Gerüchte über iranische Unterstützung. Aber auch die Golfstaaten intervenieren in ihrem vermeintlichen Hinterhof.
Die Chronik der Tagesereignisse im Jemen zeigt das Schreckensbild eines failed state: schiitische Houthis gegen sunnitische Salafisten, Jihadisten gegen Vertreter von Volkskomitees, Armee gegen Militärpolizei, Stämme gegen die Armee, hier Anwohner, die wegen eines lokalen Konflikts die Stromversorgung der Hauptstadt lahmlegen, dort ein Stamm, der kurzerhand eine der Hauptverkehrsstraßen sperrt und alle Regierungsangestellten, die vorbeikommen, als Geiseln nimmt, damit die Polizei im Mordfall an einem Stammesangehörigen ermittelt. Und über all dem Chaos das Surren der Drohnen.
Die ständige Auseinandersetzung zwischen einer schwachen staatlichen Zentralgewalt und bewaffneten Stämmen hat im Jemen zwar Tradition, es ging jedoch immer nur um die Abgrenzung der Machtbereiche. Dieses fragile, aber funktionierende System droht endgültig zu kippen, sollte es nicht gelingen, den sich selbst zersetzenden jemenitischen Staat grundlegend zu erneuern. Die lange anhaltenden und von Seiten der Demonstrierenden bemerkenswert friedlichen Proteste des »arabischen Frühlings« haben auch im Jemen mit dem Abgang des Dauerpräsidenten Saleh im Januar 2012 ein marodes Regime beseitigt, aber gleichzeitig das Desaster besonders eindringlich deutlich gemacht, das die für die Entwicklung verlorenen Jahrzehnte im Nahen Osten hervorgebracht haben. Der von den Golfmonarchien ausgehandelte Übergangsprozess hat bisher kein grundlegendes Problem gelöst und die große Frage ist, was passiert, wenn die Übergangsphase nun an ihr Ende kommt.
Der langjährige Vizepräsident Hadi wurde im Februar 2012 als einziger Präsidentschaftskandidat zu Salehs Nachfolger »gewählt«, gleichzeitig wurde der Februar 2014 als nächster regulärer Wahltermin festgelegt. Bis dahin soll eine sechsmonatige »Nationale Konferenz des Dialogs«, die im März ihre Arbeit aufgenommen hat, die Grundlagen für einen staatlichen Neuanfang legen. Tatsächlich bauten im Frühjahr die vorwiegend jungen Demonstrierenden ihre Zeltlager ab und erklärten die Revolution für beendet. Seitdem wird in Komitees zu »Good Governance« oder Verfassungsfragen unter reger Beteiligung hoch­bezahlter westlicher Experten diskutiert. Man kann sich die seltsam inhaltsleeren Berichte ­darüber sogar im Internet durchlesen, zu dem aber nur schätzungsweise 15 Prozent der Jeme­niten Zugang haben. Man erfährt auch, wie viele Computer für die »Nationale Konferenz des Dialogs« eingekauft wurden, und ahnt, dass der Tagessatz von 100 bis 180 Dollar für die Beteiligten in einem Land, in dem die meisten Bewohner von zwei Dollar am Tag leben, recht lukrativ ist.

Wo aber die tatsächlichen Entscheidungen getroffen werden und wer hier interveniert, bleibt unklar. Allerdings scheint die Aufgabe eines Staatsaufbaus unter den gegeben Umständen – mit intervenierenden Regionalmächten, ganzen Landesteilen, die sich der Regierungskontrolle entziehen, einer kollabierenden Ökonomie und ­einer ökologischen Krise – fast unlösbar. Der so ambitioniert klingende Übergangsplan der Golfmonarchien, denen wohl kaum eine besonders demokratische Zukunft des Jemen vorschwebt, erscheint geradezu als Hoffnungsstrahl, jedenfalls wenn man sich die Katastrophenszenarien ausmalt, die seinem Scheitern folgen dürften.
Man muss also abwarten, welches Verfassungsmodell im September als Zielvorgabe erscheinen wird – angeblich soll es »parlamentarisch« und kein Präsidialsystem mehr sein – und ob sich zumindest Teile der südjemenitischen Unabhängigkeitsbewegung auf eine föderale Lösung einstimmen lassen werden. Aber dann wird ohnehin die Frage sein, wer wem Waffen liefert, um eine wie auch immer geartete Lösung zu verhindern. Eines scheint gewiss: Das Surren der ame­rikanischen Drohnen über der Wüste wird kaum aufhören.