»Loud City Song« heißt das neue Album von Julia Holter

Die Chronistin des Beiläufigen

An der Schnittstelle zwischen Kunstmusik und Pop hat kaum eine Künstlerin in den letzten ­­Jahren viel Aufsehen erregt wie Julia Holter. Mit ihrem neuen Album »Loud City Song« zeichnet die Multiinstrumentalistin ein persönliches Porträt ihrer Heimatstadt Los Angeles.

Ich habe gerade zum ersten Mal gesehen, wie ein Papparazzo einen Star verfolgt. Und ich habe mein ganzes Leben in Los Angeles verbracht.« So sieht es aus, das laute Stadtleben von Julia Holter. »Loud City Song« heißt ihr neues Album, es ist ihr drittes. Im Mittelpunkt steht die Leere. Die Leere der Blicke, die Leere der Worte, die Leere des Lächelns. Also all das, was man von einem Album über die Stadt der Engel, den Hauptsitz aller Glamfabriken, erwartet. Und besonders, wenn dieses Album von Julia Holter vorgetragen wird. Oder?
Im kalifornischen Lo-Fi-Pop-Triumvirat mit Ariel Pink und Nite Jewel nimmt die 28jährige Multiinstrumentalistin eine Sonderstellung ein. Anstatt sich am Yachtrock und Synthpop der achtziger Jahre abzuarbeiten und diese in postmoderne Readymades zu gießen, die ihren eigenen Retrocharakter offen ausstellen, verfolgt Holter eine sehr eigene Version von Folk-Avantgarde. Wobei Folk hier weniger ein Genre als vielmehr eine Methode meint. Man arbeitet halt mit dem, was einem zur Verfügung steht. Julia Holters erstes Album »Tragedy« war eine Vertonung antiker Mythen in kleinteiligen, verrauschten Collagen, die Holter in ihrem Homestudio zusammengestellt hat. »Ekstasis«, ihre zweite Platte, entstand als Nebenprodukt ihres Debüts. Auf ihr finden sich zurückhaltende, verhallte Popsongs, mit Streicherarragements aus dem Rechner und Field Recordings (die Aufzeichnung vorgefundener Umgebungsgeräusche) im Hintergrund. Und nun, ein gutes Jahr später, folgt also »Loud City Song«, ein Album über ihre Heimatstadt Los Angeles.
Es ist ein leises Album geworden, kein »Straight outta Compton«, kein »L.A. Woman« – keines von diesen Alben, die Los Angeles zum Ghetto stilisieren oder als Heimstätte für den letzlich doch vollkommen kulturindustriellen Traum eines »Break on Through to the Other Side« inszenieren. Stattdessen schaut Holter auf Europa und legt das Paris des 20. Jahrhunderts über ihre Heimatstadt L.A. Dort hat die französische Schriftstellerin Colette ihre Novelle »Gigi« angesiedelt, in dem eine Prostituierte als Außenseiterin durch die Pariser Gesellschaft wandert und sie gerade deshalb so präzise beschreiben kann. Ist Holter gar eine zeitgenössische Gigi, die introspektive Außenseiterin, die die Glamgesellschaft von L.A. nachzeichnet? Das wäre die klassische Subjektposition für weibliche Musikerinnen: die sensible Künstlerin inmitten all der lauten Oberflächen. Aber Holter interessiert sich für Soundmaterial, nicht für Gefühle. »Eigentlich geht es gar nicht so sehr um die Novelle, sondern um eine Szene aus der Verfilmung«, präzisiert sie. In dieser Szene betritt Gigi, die Prostituierte, das vollbesetzte Restaurant Maxim’s. »In dem Moment wirkt es, als würde das ganze Restaurant nur über Gigi reden. Diese Atmosphäre, diesen Sound wollte ich einfangen.« »Maxim’s II« heißt der Song, der diese Situation vertont, ein opulent arrangiertes Stück, dessen Orchesterteile unvermittelt in Field Recordings aus einer Bar umschlagen, über die Holter mal haucht, mal laut spricht. »Man wird in diese Szene hereingezogen, das Stück soll etwas Ähnliches erreichen. Es ist wie im Kino.« Wobei Holters Musik weniger ein Soundtrack ist, der ihre Hörer durch die Emotionen der Handlung führt. Sondern sie ist Teil der Szene selbst. Auf »Horns Surrounding Me« setzen die Bläsersätze immer dann ein, wenn der horny Liebhaber seinen Auftritt hat, erzählt Holter. Soviel Humor muss sein.
Julia Holter ist eine Chronistin des Beiläufigen und der Orte, weniger eine Geschichtenerzählerin. Dafür verantwortlich sind zuerst die Field Recordings, die Holter regelmäßig einsetzt. Im vorigen Jahr stellte sie einen Mix für das Online-Magazin Fact zusammen, auf dem sie einige Stücke befreundeter Experimentalkomponisten aus L.A. mit Field Recordings von Radioaufnahmen, einem Spaziergang auf dem Sunset Boulevard und Papageien auf dem Mount Washington mischte. So entstand eine Karte ihres persönlichen Los Angeles, deren »Sound­scape« (R. Murray Schaefer) sie mit ihrem Mix festhielt. Entgegen der strengen Praxis des Field Recording, die vor allem den dokumenta­rischen Wert in den Mittelpunkt stellt, geht es bei Holter aber um die Assoziationen, die Stimmungen, das Atmosphärische. Ihre Soundscape ist ein Film, keine Karte.
Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Alben stehen Field Recordings auf »Loud City Song« nicht im Mittelpunkt. Sie sind atmosphärische Cocktailkirschen. Denn das Klangbild prägen die Instrumente: die Violine, das Cello, die Bläser. Holter hat sie in einem Studio aufgenommen, bei ihrem Produzenten Cole M. Greif-Neill, der auch schon für Ariel Pink und Beck gearbeitet hat: »Das war alles sehr professionell.« Der Lo-Fi-Appeal ihrer früheren Platten ist dann auch verschwunden. Stattdessen hat Holter die einzelnen Instrumente am Rechner arrangiert und vervielfacht. Es ist studierte Kunstmusik, irgendwo im Niemandsland zwischen Ambient, Pop und moderner Komposition.
Denn Holter hat Musik studiert, am California Institut of the Arts (CalArts), der von Walt Disney gegründeten Kunsthochschule. Eigentlich wollte Disney hier Personal für seine Animationsfilme schulen. Aber die erste Generation an Dozenten und Studierenden nutzte das Vermögen des Disney-Clans für Performance Art und experimentelle Kunst. Das CalArts ist die Brutstätte der kalifornischen Nachkriegsavantgarde, unter seinen Abgängern befinden sich so unterschiedliche Menschen wie der Künstler Mike Kelley und der Spezialist für Computeranimationen, Robert Blalack, der einen Oscar für »Star Wars« gewann. Es ist also die Geschichte eines Missverständnisses. Und damit genau der richtige Ort für Julia Holter. »Ich hatte tolle Lehrer dort. Sie waren vielleicht nicht die besten, aber sie waren Vorbilder für mich.« Denn wie bei jeder Kunsthochschule lernt man auch am CalArts nicht nur die Kunst, sondern auch einen bestimmten Künstlertypus zu verkörpern. Interdisziplinär soll er sein, eigenverantwortlich, am Experimentieren interessiert.
Holter ist der Musik zwar treu geblieben, aber ihre Formen wechselt sie. Kurz nach dem Studium, noch vor ihrem Debütalbum, nahm sie »Cookbook« auf, eine Komposition von John Cage, die auf einem Kochbuch basiert. »Ich denke nicht in Genres«, antwortet sie auf die Frage, ob ihr der Wechsel von der Neuen Musik zum Pop schwerfiel. »Nein, im Gegenteil. Das hat mich vermutlich gerettet.« Denn so sehr sich die experimentelle Musik in einer Haltung des freien Spielens gefällt, so leicht kippen ihre Performances auch in hinlänglich durchgespielte Gesten und Sounds. Auf »Loud City Song« treibt Holter ihre Zuneigung zum klassischen Pop jedoch auf die Spitze. »Hello Stranger« ist eine Coverversion eines Soulsongs aus den sechziger Jahren. In ihrer Kindheit habe sie den Song von Barbara Lewis oft gehört, so Holter. Sollten die Soulbands der Sechziger, das fordistische Pendant zu Destiny’s Child, wirklich ein Rollenmodell für Julia Holter sein? »Klar«, antwortet sie. »Vorbilder müssen ja nicht wie man selbst sein. Vermutlich ist es sogar besser, wenn sie sich vollkommen unterscheiden.«

Julia Holter: Loud City Song
(Domino Records/Goodtogo)