Berlin Beatet Bestes. Folge 206

Wärmelehre des Pop

Berlin Beatet Bestes. Folge 206. No More Art: Peripeteia/Evil Eyes (2012).

Lieber aggressiv als depressiv! ,war ein prägender Satz, den ich von meinem Chef im Dschungel gehört habe, als ich 1981 nach Berlin ­gezogen bin«, erzählte mir kürzlich ein Bekannter. Der Dschungel war ein im West-Berlin der Achtziger angesagter Club, und der Spruch passt gut zu den Überlebensstrategien in der grauen Mauerstadt der achtziger Jahre. Vielleicht wäre es auch heute noch einen Versuch wert. Aber leider ist es nicht immer möglich, die eigene Gemütslage be­liebig zu steuern. Jeder Mensch hat ein bestimmtes emotionales Paket, dass er durch sein ­Leben mitschleppt. Die Wärme der Eltern und des sozialen Umfelds oder der Mangel daran. Als Erwachsene treffen wir Entscheidungen, die zu diesem Paket passen. Wir suchen uns Freunde und Liebespartner, aber natürlich auch die Musik aus. Viele Menschen bevorzugen ­Musik, die so durchläuft, ohne zu nerven, bei der entweder das Hirn oder das Herz oder ­beides nicht strapaziert werden. Diese lauwarme Musik wird seit Jahrzehnten mit großer Kunstfertigkeit beispielsweise von Dieter Bohlen produziert. Andere wieder lieben Klassik, Jazz und Geräuschmusik. Kalte Musik, die hauptsächlich im Sitzen rezipiert wird oder beim Rumstehen. Grob vereinfacht gesagt: Lauwarme Musik ist für die Dummen, kalte Musik für die Schlauen. Warme Menschen brau­chen dagegen Musik, die ins Herz geht.
Dann gibt es noch Leute, die kom­plexer strukturiert sind, die also emo­tionalen Tiefgang haben, klug und gebildet sind und nicht auf Tanzmusik verzichten wollen. In meiner Vorstellung gehören dazu die Leser der Jungle World. Den Typus von Pop-Hörer gab es aber bereits in den vierziger Jahren. Erst in den neunziger Jahren wurde für ihn die Musik der Hamburger Schule erfunden. Nun bin ich selbst Hamburger, konnte aber mit der Hamburger Schule nie was anfangen. Vielleicht, weil ich nie eine Hochschule von innen gesehen habe. Oder nur, um dort meine Freundin abzuholen. Ich mochte die Band Angeschissen. Die waren hamburgischer als alle Hamburger-Schule-Bands zu­sammen, sowohl doof als auch schlau, aber nie lauwarm.
Eine neue Hamburger Band, die ich auch sehr mag, ist No More Art (NMA), obwohl, oder ­vielleicht sogar weil die Bandmitglieder allesamt gar keine Hamburger sind. Sängerin Milo spielt außerdem in der Bremer Garage-Band Trashmonkeys und hat ihr eigenes Singer-Songwriter-Soloprojekt namens Rosie Tie. Ihre Mitmusiker sind Spanier und Amis, die in diversen internationalen Hardcore-Punk-Bands ­gespielt haben. No More Art ist eine warme Band, deren aggressiver, melodischer Punk Rock an schwedische Bands wie Masshysteri und Terrible Feelings erinnert. Wie diese schreiben auch sie Songs, die zugleich als Popsongs funktionieren würden, und weichen damit deutlich vom ­üblichen DIY-Punk ab. Nach dieser ersten Single auf dem Label Erste Theke Tonträger erschien im vorigen Jahr auf dem renommierten ­kanadischen Label Deranged eine zweite. Am 29. August spielen NMA mit der kalifornischen Punk-Band TSOL im Hafenklang in Hamburg.

Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com/) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.